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Buchempfehlung: Jacqueline Jones – Göttin der Anarchie. Leben und Zeit von 
Lucy Parson.

Jacqueline Jones: Göttin der Anarchie. Leben und Zeit von 
Lucy Parson. Biografie. Aus dem Englischen von Felix Kurz. Großformatige Broschüre mit 16-seitigem Bildteil, 448 S., Edition Nautilus, Hamburg, Januar 2023, 34,- Euro, ISBN 978-3-96054-301-5

Lucy Parson (1851-1942) ist im deutschsprachigen Raum im Vergleich zu Emma Goldmann weniger bekannt, war aber zu Lebzeiten in den Vereinigten Staaten sehr populär wie berühmt und hat sich über ihre politischen Redetourneen und Agitationsveranstaltungen ihren Lebensunterhalt verdienen können. Als Witwe des im bekannten Haymarket-Prozesses von 1886 unschuldig zum Tode verurteilten Albert Parsons, wurde dieses Ereignis zu einem wesentlichen Dreh – und Angelpunkt ihrer politischen Identität und Erinnerungskultur, die sie bis zu ihrem Tode über die Spannweite ihres langen Lebens aufrecht erhielt. 1905 begründete sie die IWW (Industrial Workers of the World) mit und konzentrierte sich als bekennende Anarchakommunistin in ihrem politischen Kampf auf die Klassenfrage und die Abschaffung von Staat und Kapitalismus. Hierbei bezog sie Obdachtlose, Prostituierte und Wanderarbeiter*innen (die Tramps) mit ein. Feminismus verstand sie als Teil des Kampfes der Arbeiterinnenklasse und grenzte sich stark gegen einen Mittelschichtsfeminismus ab. Hierbei war sie eine scharfe Kritikerin von Emma Goldmann, die unter anderem die „freie Liebe“ propagierte, dies sah sie als nicht wirklich relevanten politischen Gegenstand. Dabei lebte sie auch sehr freizügig, machte ihren privaten Lebensstil aber nicht zum Inhalt ihres politischen Kampfes. Sie war aktiv bei mehreren anarchistischen Zeitungen dabei, engagierte sich gegen die Diskriminierung von Mischehen und wurde mehrfach wegen Agitation mit anarchistischer Literatur ins Gefängnis gebracht. Ihre „schwarze“ Herkunft als freigelassene Tochter einer Sklavin verleugnete sie, wie sie auch nicht auf die besondere Diskriminierung und Gewalt gegen POC Personen einging, die eine wesentliche Untergruppe des Proletariats in den USA darstellten. Parson hat sich nicht, wie heute üblich, in einer identitären Weise, als diskriminierte Person an die Öffentlichkeit gewandt, obwohl sie mehrfache Diskriminierungs-erfahrungen erlebte, sondern widmete sich mit ganzer Kraft per Propagierung der direkten Aktion (DA) ihrem Kampf der Arbeiterinnenklasse. Ihre Vitalität speiste sich aus ihren mit Polemik gespickten Reden, womit sie auch gerne Veranstaltungen unterwanderte und mit ihren Beiträgen die Aufmerksamkeit auf sich zog. Dem Buch gelingt es sehr gut, das Beeindruckende von Lucy Parson nahe zu bringen, ohne mit ihr persönlich sympathisieren zu müssen. Mit Kontrahent*innen ist sie wenig zimperlich umgegangen und scheute sich nicht, diese vor Gericht zu verklagen oder die Polizei für sich zu nutzen. Ihren Sohn ließ sie als jungen Erwachsenen in eine Psychiatrie einweisen, weil er ihr nicht mehr folgen wollte.

Zusammenfassend ist zu sagen, dass es der Autorin Jacqueline Jones fesselnd gelingt, Lucy Parson als maßgebliche Aktivistin und ihrer Zeit in der Chicagoer anarchistischen Szene aus der Vergessenheit herauszuholen und im deutschsprachigen Raum bekannter zu machen. Kritisch ist anzumerken, dass Jones aus meiner Sicht, Lucy Parson aus einer zu persönlichen individuellen Perspektive mit zwar vielen (auch neuen) Details, als nur widersprüchliche „radikale Persönlichkeit“ darstellt. Die Gesamtaktivitäten von Parson als kollektive Identität der IWW und ihre Bedeutung für die Anarchistische Bewegung werden zwar richtig hinterfragt, aber nicht genügend gewürdigt. Möglicherweise ist der Autorin die Bedeutung von „Anarchakommunismus“ zu fremd. Es fehlen Bezüge/Angaben ihrer reichhaltigen publizistischen Tätigkeit und Vernetzung innerhalb der Wobblies, die eine sehr soziale egalitäre basisdemokratische Kultur pflegten. Auch der Titel „Göttin der Anarchie“ ist wenig anarchistisch und drückt in drei Worten meine grundsätzliche Kritik einer ansonsten sehr detailreich recherchierten Biographie aus.

Falka