Zerstört den Staat! Marx und Bakunin über die Pariser Kommune

Referat im Wortlaut

Gerd Koch: Ein Autor blickt in sein altes Buch: „Zerstört den Staat! Marx und Bakunin über die Pariser Kommune“ (Verlag Association, Hamburg 1974)

Eine Veranstaltung in der Bibliothek der Freien am Freitag, 1. Februar 2008 [Ankündigung]

 

Bücher haben ihre Geschichte. Eigentlich heißt es magisch und mythisch beim römischen Schriftsteller Terenz: Habent sua fata libelli: Bücher haben ihr Schicksal. Ich will es bescheidener angehen und das tun, was in der Ankündigung des heutigen Abends steht: Ein Autor schaut in sein altes Buch, das den Titel trägt: „Marx und Bakunin zur Pariser Kommune(:) Zerstört den Staat!“ – und ich schaue zurück und spiele die Rolle eines Zeitzeugen.

Zuerst: „Wie kam ich zum Thema?“ und dann im zweiten Teil: „Wie kam es zum Buch?“.

Wie kam ich zum Thema?

Ich studierte bis 1971 an der Universität Hamburg im Fachbereich Erziehungswissenschaft, um dort das Lehrerexamen abzulegen. Vorher hatte ich an der Freien Universität Berlin studiert. In Hamburg musste ich zwei Kern-Fächer belegen: Erziehungswissenschaft mit Methodik und Didaktik – in meinem Falle war es die Didaktik der Politik und Sozialkunde – und ferner musste ein Wahlfach, ein Hintergrundfach eben für diese Didaktik, nämlich Politische Wissenschaft oder Soziologie, belegt werden.

Zwei Abschlußarbeiten, sog. Staatsexamensarbeiten, waren zu erbringen. In der Erziehungswissenschaft fertigte ich eine Arbeit an zum Problem der Zukunft – gezeigt am Beispiel von in Hamburg verwendeten Schulbüchern. Das Studienfach Didaktik (darunter ist so etwas wie Unterrichts-Methodik und -Reflexion zu verstehen) hatten wir als Studentinnen und Studenten in teils durch einen Dozenten angeleiteten Theorie-Praxis-Seminaren geübt – unser Dozent war Hans-Konrad Tempel, der in den fünfziger Jahren, als religiöser Pazifist, als Quäker, die Ostermärsche nach dem englischen Modell in die BRD geholt hatte. Dann aber hatten wir innerhalb der Universität selbstorganisierte Seminare – ohne Dozentenbeteiligung – erkämpfen können, d. h. wir setzten uns Themen, die wir autonom unter uns Studierenden ohne Leitung bearbeiteten und die dann nach Abschluß des Semesters auch als ordentlich erbrachte Studienleistung anerkannt wurden. In ein solches Seminar brachte ich die Zukunftsthematik ein. Daraus entstand später dann die eine meiner beiden Abschlußarbeiten.

Die zweite Examensarbeit schrieb ich in der Politischen Wissenschaft. Welches Thema sollte ich da wählen? An der Freien Universität Berlin hatte ich schon fast alle für den Studienabschluß notwendigen Seminare besucht, so dass ich an der Universität Hamburg nur wenig in dieser Disziplin studierte und mithin kaum Dozenten kennen und schätzen lernen konnte, bei denen ich eine Abschlußarbeit hätte schreiben können.

Günstig war es, dass ein junger Dozent neu in dem Fach berufen wurde: Dr. Udo Bermbach; er war Schüler von Dolf Sternberger (Heidelberg). Sternberger war ein kultur-liberaler Publizist, der im Kontext der alten Frankfurter Zeitung (Autoren: Kracauer, Benjamin, Bloch) publizistisch tätig war und später zu den Herausgebern der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) gehörte. Er hatte keine NS-Vergangenheit und betrieb – etwas als Außenseiter – Politische Wissenschaft gewissermaßen als Wissenschaft der Ideen und Normen und der Politischen Kultur. In den 1970er Jahren prägte er den Begriff des Verfassungspatriotismus’. Später, 1985, bekam er den Ernst-Bloch-Preis.

Udo Bermbach arbeitete als Parlamentarismus-Forscher, hatte Vorformen des Parlamentarismus im deutschen Kaiserreich untersucht. Heute ist er in Fachkreisen bekannt als Richard-Wagner-Forscher, als Forscher zur Politik der Oper und hat etwa an der Staatsoper Unter dem Linden Beratungen und Konferenzen zu Richard Wagner mit durchgeführt. Damals aber war er der Parlamentarismus-Experte in Hamburg – aber Parlamentarismus war ja damals nun gar nicht das, was in der Studentenbewegung als ein interessantes, besser: als ein positiv besetztes Thema bezeichnet werden konnte. Ja, Parlamentarismus-Kritik, das schon. Der Fachbereich Politische Wissenschaft der Universität Hamburg war ein Hort der Parlamentarismus-Forschung.

Aber Udo Bermbach veranstaltete im Wintersemester 1970/71 ein davon etwas abweichendes Hauptseminar mit dem Titel „Organisationsprobleme in der sozialistischen Theorie“. Das besuchte ich, und daraus entstand der Wunsch, ein Thema für die Examensarbeit zu finden und es beim Bermbach einzureichen. Ich schlug ihm vor, die Rolle der Intellektuellen, der Künstler und Schriftsteller in sozialistischen Organisationen, in der Arbeiterbewegung Ende des 19. Jahrhunderts zu bearbeiten. Darauf war ich neugierig – hatten doch gerade in den 1960er/70er Jahren westdeutsche Autoren versucht, sich politisch einzumischen – und ich hatte schon in Berlin eine gute Hausarbeit zu Günter Grass und seinem bürgerschaftlichen Engagement für die SPD, für Willy Brandt, angefertigt, und die Autoren der Gruppe 47 interessierten mich. Daran meinte ich, anschließen zu können. Das war aber dem Dozenten zuwenig auf das Organisatorische in der Arbeiterbewegung, auf ihre Organisations-Theorie bezogen, so dass er mir das Thema ausredete und deutlich vorschlug, doch über die Pariser Commune von 1871 zu schreiben und darüber, wie die Antipoden Marx und Bakunin zu diesem Organisationsmodell sich verhalten hatten.

Ich muß gestehen: Nur sehr schwach hatte ich mal etwas von der Pariser Commune gehört. Im Schulunterricht nie etwas; deutlicher gesagt: Ich wusste fachlich nichts davon. Aber ich sagte zu, darüber eine Examensarbeit anzufertigen.

Marx war mir ein gutes Signal. Bakunin? Was wusste ich von ihm? Wie bei Commune von Paris – Fehlanzeige. Udo Bermbach machte mir die Sache schmackhaft, auch ließ er durchblicken, dass da was zu erforschen sei – auch für ihn wäre das stückweise Neuland – Stichworte waren für ihn wohl: Räte und/versus Parlamentarismus. Ich sagte also zu, diese Thematik zu bearbeiten. Der Titel der Examensarbeit wurde verabredet und hieß: „Probleme der Kommune-Interpretation (1871) bei K. Marx und M. Bakunin“ – schön offen formuliert und akademisch klingend dazu.

Zwei Examensarbeiten-Thematiken lagen nun zur Bearbeitung vor mir: ‚Das Problem der Zukunft’ für den erziehungswissenschaftlichen Teil des Studienabschlusses und ‚Probleme der Kommune-Interpretation’ für den politikwissenschaftlichen Teil.

Beidesmal steht das Wort „Probleme“ im Titel. Und in der Tat, es gab so einige Probleme – auf verschiedenen Ebenen:

Für jedes Thema hatte ich eine knappe Bearbeitungsfrist von 4 Wochen; dazwischen eine Pause von 4 Wochen – und dann war die zweite Arbeit zu erstellen. Ich begann mit der Kommune-Arbeit und überzog um 2 Wochen, so daß ich nach einer nur zweiwöchigen ’Umschaltpause’ in die Probleme der Zukunft für Pädagogen, für den Schulunterricht einsteigen musste. Ich machte mir anfänglich darüber keine Sorgen und meinte, das wäre mit Leichtigkeit zu schaffen, hatte ich doch im selbstorganisierten Seminar schon zum Thema gearbeitet. Aber leider war es nicht so leicht: ich tat mich sehr schwer: denn es ist etwas anderes, eine Seminarkommunikation anzuregen oder aber einige Seiten mit Argumenten zu versehen und Gedanken zu fixieren. Und außerdem hatte ich wohl immer noch die Bearbeitung des für mich neuen und lehrreichen Themas Pariser Kommune im Kopf – in das ich sehr viel Interesse und Zeit gesteckt hatte.

Mit dem Kommune-Thema war ich übrigens in das Jahr der umfangreichen Erinnerung an die Kommune von vor 100 Jahren gerutscht, und es erschienen 1970, 1971 fast täglich Artikel auch in Publikumszeitschriften wie „Stern“ oder „Spiegel“ und in Rundfunk-Essays zur Erinnerung an 1871.

Auch wurden Dokumente nachgedruckt und Ausstellungen eingerichtet. Natürlich besonders in Paris. Ich hatte eine Freundin, die in Paris Deutschlehrerin war. Als ich sie besuchte vor dem Beginn der Bearbeitungszeit meiner Kommune-Examensarbeit, waren wir natürlich in einer Ausstellung zum Thema, wir waren im Bezirk Belleville, wir waren auf dem Friedhof Père Lachaise vor dessen südlicher Mauer am 28. Mai 1871 147 Aktive der Pariser Kommune erschossen wurden. Und ich hatte in dieser Freundin eine politisch interessierte Übersetzerin aus dem Französischen, das ich nur äußerst mangelhaft beherrsche – was ja eigentlich fahrlässig ist, wenn man sich mit der Commune beschäftigt.

In meiner Arbeit habe ich mich denn auch weitgehend auf deutschsprachige Literatur bezogen – die z. T. damals neu aufgelegt oder gerade erst erschienen war, z. B. ein Bakunin-Band mit dem Titel „Gott und der Staat und andere Schriften“ (1969). Von Karl Marx übernahm ich Hinweise aus seinem „Konspekt des Buches von Bakunin ‚Staatlichkeit und Anarchie’“ (MEW Bd. 18; Marx hatte ja noch Russisch gelernt, um die neuen sozialen Bewegungen im Zarenreich besser zu verstehen).

Erst nach Abschluß meiner Arbeit erschienen Bakunins „Staatlichkeit und Anarchie“ in deutscher Übersetzung 1972 im Berliner Karin Kramer Verlag; ebenso Lavrovs Buch „Die Pariser Commune“: es kam 1971 bei Rotbuch heraus; ebenfalls 1971 erschien Lissagarays „Geschichte der Commune von 1871“, und Erich Kundel stellte 1971 im Dietz-Verlag der DDR ein fiktives „Tagebuch der Pariser Kommune“ mit Äußerungen von Marx und Engels und zeitgeschichtlichen Dokumenten zusammen.

Ich las meine damalige Examensarbeit mit den Augen und Interessen von heute wieder. Einem Ernst-Bloch-Zitat von 1965, das ich damals schon verwendete (S. 83), kann ich noch recht gut zustimmen. Es könnte fast ein Motto zu meiner Arbeit sein:

„Es hat sich also gezeigt, dass die Prämissen zum aufrechten Gang im Marxismus nicht genügend angedacht sind, der eben nicht nur an die Französische Revolution anschloß, sondern auch an die hegelsche Philosophie, an deren autoritären, objektiven Geist. Die staatskritischen Prämissen, die anarcho-syndikalistisch in Frankreich ermittelt waren, die auch in der italienischen Partei im 19. Jahrhundert lebendig waren – dieses: Wie rette ich den einzelnen Menschen vor dem Staat? – sind nicht zu Ende gedacht worden. Das Absterben des Staates kommt nicht, und die individuelle Freiheit, ein besonderes Ziel des Marxismus, ist schlimmer dran als irgendwo“ (Ernst Bloch im Interview mit Fritz Vilmar, in: Über Ernst Bloch, Frankfurt am Main 1968, S. 92; siehe auch Ernst Blochs Buch: Naturrecht und menschliche Würde; auch seine Thematisierung von Herr und Knecht).

Aus der zustimmenden Verwendung dieses Zitats mit Hinweis auf ‚den Marxismus’ sieht man schon, dass ich damals – selbst autoritär fixiert – dem System-Entwurf von Marx eher sympathisch gegenüberstand. Wie Bloch dachte ich, man habe im Marxismus „nicht genügend angedacht“, dass da etwas fehle im Hinblick auf das Subjekt, auf individuelle Freiheit und menschliche Würde – und abstrakt, wie ich – damals? – dachte, meinte ich: das ließe sich beheben und sei kein ‚Web-Fehler’ oder System-Fehler. Marx war für mich der System-Denker der Revolution.

Und wenn man mich früher fragte, was denn die Leistungsfähigkeit von Bakunin wäre, dann hatte ich manchmal schnell dies auf der Zuge: Bakunin war der bessere Psychologe der Revolution, der, der die rebellischen Bedürfnisse ernstnahm, der, der unmittelbar beteiligt war. Revolte, Rebellion: das waren die beiden Begriffe, die ich nahe an ihn rückte.

Von heute aus gesehen, kann ich meinen Schlusssätzen (S. 86) von 1971 nur noch bedingt zustimmen und sehe sie eher als eine Herausforderung an, weiter nachzudenken und bescheidener zu werden. Ich hatte mir damals zuviel Durchblick angemaßt.

So formulierte ich vor 37 Jahren etwas zu vollmundig bzw. mir Mut zuschreibend:

  • „Die theoretischen und praktischen Systeme des Anarchismus und des Sozialismus unterscheiden sich im Grad ihrer Komplexität, wobei das des Sozialismus das umfangreichere ist. Es nimmt wesentliche Bestandteile des Anarchismus in sich auf“ (86).
  • „Will man die Probleme im Verhältnis von Sozialismus und Anarchismus formelhaft zusammenfassen, so kann man sagen: Theorie und Praxis des Sozialismus sind die Bedingungen für die Möglichkeit von Anarchie (gleich klassen- und herrschaftsloser Gesellschaft)“ (86).
  • „Und: Die Geschichte des Anarchismus kann dem Sozialismus Hinweise auf mögliche Formen der Organisation nach der Machtergreifung durch das Proletariat geben“ (86).

Ich wollte den Marxismus/Sozialismus ‚retten’, indem ich ihm Wesensbestimmungen des Anarchismus, des libertären Sozialismus argumentativ meinte zuliefern zu können. In meiner Arbeit hatte ich auch an einigen Stellen, die umgekehrte Maßnahme empfohlen …

Oder ich hatte die Überlegungen von linken Existenzphilosophen wie Jean-Paul Sartre oder Adam Schaff als Kritik am subjektfernen Marxismus/Sozialismus in der Examensarbeit wenigstens angeführt.

Auch hatte ich vereinzelt Hoffnungen auf den sog. Selbstverwaltungs-Sozialismus in Jugoslawien gesetzt (Räte-Sozialismus war damals auch ein Begriff dafür – die gewerkschaftskritische Publizistin Claudia Pinl war es wohl, die später spitz anmerkte: das sein kein Räte-Sozialismus sondern ein Zu-Rede-Sozialismus und ein eingeredeter dazu).

Ferner hatte ich knapp skizziert, was in der sog. anti-autoritären Bewegung Westdeutschlands geschah, denn die wurde von manchen als neo-anarchistisch bezeichnet: basisnah, anti-hierarchisch, regionalistisch, Emotionen und Subjektivität ernstnehmend.

Die Untersuchung von Michael Vester über die „Entstehung des (englischen, Anm. gk) Proletariats als Lernprozeß“ (1970) war mir wichtig: Die Dialektik von Lern- und Kampfzyklen interessierte mich, so dass ich damals in einer pädagogischen (!) Zeitschrift (nämlich in „Pädextra“) das Buch des Hörfunk-Journalisten Bodo Morave über die Streiks und Betriebsbesetzungen sowie Versuche der Selbstverwaltung in der französischen Uhrenfabrik LIP rezensierte und in dessen Buch eine Bestätigung der Selbsthilfe, der Vernetzungen, der Eigenverantwortung und der direkten Kämpfe, wie sie Michael Vester für die frühe englische Arbeiterbewegung ermittelt hatte, meinte wiederzuerkennen. Und ich nahm wahr, dass diese Fabrik ja geographisch-politisch in der Nähe des französischen Jura lag (Besancon), dort, wo libertäre Sozialisten und Anhänger des Föderativ-Systems mehr verbreitet waren als Marxisten/Sozialisten.

Die zeitweilig selbstverwaltete Fabrik LIP besuchte ich später auch, und trage immer noch eine LIP-Uhr, die von der Freiburger Anti-AKW-Bewegung mit dem Zifferblatt-Aufdruck „Atomkraft nein danke“ versehen zum Soldiaritätspreis von mir gekauft wurde. Diese Uhr im Format einer Herren-Armbanduhr hat übrigens im Innern das kleine Uhrwerk einer Damen-Armbanduhr – schon damals, noch verdeckt, ein bisschen Feminismus … und auf dem Uhrwerk ist sehr klein eingraviert, nur vom Uhrmacher mit der Lupe zu entziffern: liberté.

Außerdem hat mich die Kritik an zentralisierten Gewerkschaften interessiert (in Italien sprach man von der Gefahr einer ‚Verdeutschung’ der Gewerkschaftsbewegung in der Europäischen Gemeinschaft). Diese Kritik formulierte etwa Überlegungen zu einer Mitbestimmung am Arbeitsplatz, wie sie Mitte der 1970er Jahre z. B. der Gewerkschafter Fritz Vilmar, der später auch als Friedens- und Konfliktforscher und Hochschullehrer tätig war, propagierte mit Bezug namentlich auf Skandinavien.

Deutlich mehr politisiert fand ich solche Gedanken in Italien wieder bei dem Ansatz des italienischen operaismus (‚Arbeiterismus’), der in Diskussionszirkeln rund um die 1961 zum ersten Mal erschienene Turiner Zeitschrift quaderni rossi (Rote Hefte) entstand.

{Anmerkung 2008: Um die quaderni rossi sammelten sich vor allem junge GenossInnen aus PSI und PCI, die teilweise ihre Partei verlassen hatten, teilweise drin geblieben waren, Gewerkschaftsaktivisten und StudentInnen, die sich nach anderen Möglichkeiten praktischer politischer Arbeit und theoretischer Debatte umsahen. Wobei für die Mehrheit von ihnen operaismus ein Schimpfwort war, von dem sie sich ebenso scharf distanzierten wie vom Vorwurf des „Anarchosyndikalismus“. Sie sahen sich als Vertreter einer mehrheitlichen Strömung der Arbeiterklasse, nicht als „Extremisten“. „Operaismus“ als politische Kultur war erst anerkannt, als tatsächlich die Arbeiterkämpfe 1969 ff. die politische Situation in Italien für mehrere Jahre vollständig umkrempelten (aus dem Internet 29. 1. 08: Die Quaderni rossi).}

Ich sah darin auch eine sozialwissenschaftliche, politische Forschung- und Handlungsweise: action research, Handlungsforschung, parteiliche Forschung, Adressatenbeteiligung, Partizipation.

Klassenbewußtsein war in diesem Zusammenhang keine zugerechnete Größe (wie man es formuliert findet bei Georg Lukács in „Geschichte und Klassenbewusstsein“), sondern eine alltägliche Form, wie sie ‚in jeder Falte des Arbeiterkittels steckt’ (so ähnlich hatte Wilhelm Reich es einmal gesagt).

Ich habe mich Anfang der 1970er Jahre politisch organisiert in einem Arbeitszusammenhang der sog. Neuen Linken in Westdeutschland: im Sozialistischen Büro (SB), auch Offenbacher Büro genannt. Das SB gab die Zeitschrift „links“ und den „express“ (eine Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit) heraus und eine Reihe von Broschüren für verschiedene Arbeitsfelder.

Überhaupt das Wort „Arbeitsfeld“: Es war und ist für mich das organisatorische Basiswort. Nicht nach Köpfen, also nach der Zahl der Mitglieder, solle eine neue Linke sich finden, sondern am Beteiligtsein in verschiedenen Arbeitsfeldern: ein Arbeitszusammenhang, nicht ein Mitglieder-Zahl-Zusammenhang. Oskar Negt hatte als Soziologe, als Mensch der Arbeiterbildung – siehe sein Standardwerk: Exemplarisches Lernen und soziologische Phantasie, zuerst erschienen 1968 – und aus seinem Herkommen aus der Frankfurter Schule dieses Organisationskonzept entwickelt, was ich wegen seines nicht-hierarchischen Ansatzes sehr schätze. Und es machte das soziale und interessierte Handeln in der Gesellschaft zum wichtigen Ansatz für Veränderungen.

Seltsamer(oder eben gar nicht seltsamer)weise habe ich nicht in Erinnerung, dass damals im SB (stark) Bezug genommen wurde auf die Leistungen der libertären Sozialisten, auf Bakunin usw. Erst mein Kollege und Freund Rolf Schwendter (Kassel/Wien), der ein Buch zur „Theorie der Subkultur“ (1971) verfasste, hat für mich in unserem damaligen Zusammenhang solches Denken wieder ins Recht gesetzt – und z. T. waren es auch die Gedanken von Ernst Bloch in seinem „Prinzip Hoffnung“. Sammelbände mit Texten der sog. Frühsozialisten bzw. der als utopische Sozialisten beschimpften Autoren und Aktivisten erschienen etwa erst 1968 bei Kröner (Ramm), 1970/71 bei Rowohlt (Vester) und 1972 bei dtv (Kool). Die Buchreihe „Politische Schriften“ in der Europäischen Verlagsanstalt machte vergessene Texte zugänglich.

Wie kam es zum Buch?

Wie nun kam es zur Veröffentlichung meiner kleinen, in etwa sechs Wochen erstellten Examensarbeit? Sie erschien 1974 im Hamburger „Verlag Association GmbH“. Dieser Verlag residierte im Keller eines alten Gebäudes der Universität Hamburg, im sog. Pferdestall – das war auch das Gebäude, in dem das Hauptseminar, das ich bei Udo Bermbach zu Organisationsfragen besuchte, stattfand. Man betrieb dort einen linken, anti-autoritären, anarchistischen Verlag und den Buchversand Spartakus (später gab es auch eine Buchhandlung desselben Namens im Hamburger Grindelviertel). Zwei Personen, Karin und Cäsar (er sah wie ein junger Bakunin aus), arbeiteten dort; manchmal auch halfen andere mit, wenn viel zu tun war (ich tat es auch, etwa wenn Bücher zu verpacken oder Büchertische vorzubereiten waren). Mit den Personen des Verlags hatte ich Kontakt, weil man sich auf dem Uni-Gelände beiläufig traf, weil man an Büchertischen quatschte, weil man sich auf denselben politischen Veranstaltungen traf, weil man über politische Gegner herzog, weil man sich austauschte über Personen der sozialistischen Geschichte. Karin sprach wohl recht gut Französisch, hatte, wenn ich mich nicht irre, langjährige Kontakte zu Spanienkämpferinnen und –kämpfern, die in Südwestfrankreich im Exil lebten. Aus deren Erfahrungen heraus wurde ein Teil des Buchprogramms gestaltet; einige Bücher mit Erinnerungen dieser Personen kamen heraus.

Als Erziehungswissenschaftler (es waren Studenten und Studentinnen, ich war wissenschaftlicher Assistent) brachten wir 1973 im Verlag Association ein weniger als postkartengroßes Büchlein heraus, das wir „Kleines graues Referendarbuch“ nannten. Es behandelte das Rückgradbrechen von Studienreferendaren durch das staatliche Studienseminar in Hamburg. Wir schafften mehrere Jahrgänge und Auflagen. Entstanden war das Büchlein aus einem umfangreichen Seminarprotokoll, das von der Situation der Studienreferendare berichtete. Nimmt man alle Auflagen zusammen, dann haben wir wohl etwa 5000 Exemplare in etwa 3 Jahren unter die Leute bringen können.

Da die Bücher so klein im Format waren, konnten sie übrigens damals in der Druckerei von Jobst Schultze nicht durch seine automatische Sortier-, Klebe- und Bindemaschine geschickt werden, so dass wir im Freundeskreis Hand anlegten in dieser kleinen Hinterhofdruckerei. Dort druckte auch eine Gruppe von Hamburger Jungsozialisten ihre Monats-Info-Blätter, und einer der Jusos war freier Mitarbeiter beim NDR: Er stellte unser Referendar-Buch in einer Jugendsendung im Radio vor: Beste Werburg.

Der spätere CDU-Verteidigungsminister Volker Rühe – ein Realschul-Lehrer aus Hamburg – nahm dieses aufmüpfige, selbsthelferische Unternehmen aufs Korn im Hamburger Landesparlament, der Bürgerschaft, und hielt es für einen zusätzlichen Beweis dafür, dass der Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg eine rote Kaderschmiede sei.

Der Verlag Association nahm meine Arbeit mit der Kommune-Thematik halbwegs freundlich an. Man war nicht ganz zufrieden mit meiner Linie der Argumentation: es war den Verlags-Genossen noch zuviel Marx darinnen – aber ich hatte mich immerhin bemüht, Bakunin und libertäre Sozialisten ausreichend zu Wort kommen zu lassen. Und – wie schon angedeutet – soviel aktuelle Literatur zum Thema gab es nicht.

Die Umschlaggestaltung und auch die endgültige Titelfindung machten wir gemeinsam: Wichtig waren Karin und Cäsar, dass ein gemeinsames Vorgehen der Arbeiterschaft dokumentiert werden sollte – schon auf den Umschlagbildern (was auch geschah, wie man sehen kann).

Bei Marx und Bakunin finden sich ferner genügend Belege, die das Absterben, die Zerstörung des Staates als über der Gesellschaft stehender Einrichtung ansprechen, so dass für beide der Ausruf „Zerstört den Staat!“ gelten konnte …

Übrigens: Auf dem Umschlag finden wir einen Doppelpunkt nach dem Satz „Marx und Bakunin zur Pariser Kommune:“ – dieser Doppelpunkt fehlt auf dem Titel-Blatt im Innern …

Von dem Buch (mit 110 Seiten) wurden 2000 Exemplare gedruckt. Im Jahr 1974 erschienen neben meinem Buch im Verlag Association ein Band über „Die Lage der arbeitenden Klasse in Deutschland“, eines zu „Student und Klassenkampf“, eine Dokumentation zur Entstehung von Einheitsgewerkschaften, der Nachdruck der Göttinger Studenten-Zeitung „Politikon“, von Erich Fried kam heraus: „Höre Israel! Gedichte und Notizen zum Zionismus und Widerstand in Israel“, von Murray Bookchin: „Umwelt und Gesellschaft. Diskussion um Bookchin“ (er starb 2006, war Anarchist und früher Ökologe – der Verlag Association war übrigens einer der ersten in Westdeutschland, der Bücher zur Ökologie, etwa Holger Strohms Schriften, publizierte); auch zwei Bücher von Upton Sinclair kamen 1974 heraus.

Aus jetzt gegebenem Anlaß habe ich neugierig mal in internationalen Katalogen per Internet nachgeschaut: Mein Kommune-Buch findet sich nicht nur in deutschen Bibliotheken; gerade Italien und Frankreich sind gut vertreten.

In meinen Bewerbungen um Stellen im öffentlichen Dienst habe ich auf meiner Publikationsliste immer auch diesen Band mit dem vollständigen Titel angegeben. Es gelang mir, Beamter zu werden …

Mit dem Verlag war ich lange Zeit freundschaftlich-nachbarschaftlich verbunden. Die beiden Leute im Verlag hatten immer Neuigkeiten aus der süd-west-europäischen, romanischen Tradition der Arbeiterbewegung. Ich hörte auf diese Weise anderes, als das, was in der Form des DDR-Sozialismus kolportiert wurde. Auch die Thematiken von Exil und Emigration wurden mir vertraut gemacht.

Als es dem Verlag finanziell noch schlechter als gewöhnlich ging und ich schon ein regelmäßiges Gehalt an der Hamburger Universität hatte, wurde ich Bürge für eine Kreditaufnahme des Verlags. Leider aber verließ kurz danach Cäsar, der Mann im Verlag, den Verlag und das Land und seine Partnerin. Man munkelte, er habe sich nach Südfrankreich abgesetzt, weil er Spielschulden angehäuft habe. Karin bemühte sich kräftig, Schulden des Verlags abzutragen, um die Bürgen nicht mit in den Schlamassel hinein zu ziehen – was ihr mit Hilfe anderer (auch von linken Buchhandlungen) gelang. Ich weiß nicht mehr, wann der Verlag aufhörte zu existieren – Ende der 1970er Jahre? Eine Zeitlang firmierte er noch unter dem Namen Maldoror (als die frankophile Karin ihn – allein? – weiterführte), benannt nach den Gesängen des Maldoror (Les Chants de Maldoror), dem einzigen Werk des surrealistischen französischen Dichters Lautréamont (Pseudonym für Isidore Lucien Ducasse).

Wenn ich mein Buch von damals wieder anschaue, merke ich, wie mich die Arbeit von damals bis heute beeinflusst hat. Ich möchte meine Beschäftigung mit der Pariser Commune nicht missen – aber: Kräftige Fragezeichen ??? sind angebracht. Offene Fragen bleiben – nicht nur an mich, sondern auch an Marx, an Bakunin !!!