Referate im Wortlaut der Veranstaltung in der Bibliothek der Freien am Freitag, 5. September 2008 [Ankündigung]
1. Beitrag
Anarchismus und Organisation
»Anarchismus«, so lautet eine neuere Definition, »ist die revolutionäre Idee, daß niemand dein Leben besser bestimmen kann als du selbst. Anarchismus bedeutet, gemeinsam unsere individuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Anarchismus bedeutet, miteinander zu arbeiten, nicht für oder gegen jemanden. Und wenn all dies unmöglich ist, dann bedeutet Anarchismus, den Widerstand der Unterwerfung vorzuziehen.«
Die hier ausgedrückten anarchistischen Werte – Selbstbestimmung, Kooperation, Widerstand – sind am besten in Gemeinschaftsformen zum Leben zu erwecken, in Milieus oder Gruppen, das heißt durch ein organisiertes Zusammenwirken von Menschen. Wenn er gut ist, ist der Anarchismus also eine alternative Organisationsphilosophie. Im Jahre 1966 veröffentlichte der britische Architekt Colin Ward einen Artikel zu diesem Thema. Im Gegensatz zum Vorurteil über Anarchie als Chaos und Unordnung definierte Ward drei Kennzeichen anarchistischer Organisationsformen – diese müßten nämlich 1. freiwillig, 2. funktionsgerecht und 3. klein sein. Er führte hierzu aus:
»Freiwillig sollten sie aus naheliegenden Gründen sein. Denn unser Eintreten für individuelle Freiheit und Verantwortlichkeit wäre zwecklos, wenn wir gleichzeitig Organisationen forderten, bei denen die Mitgliedschaft obligatorisch ist. Aus ähnlich naheliegenden, aber nicht immer beachteten Gründen sollten sie eine echte Funktion haben. Organisationen neigen dazu, auch dann weiterzubestehen, wenn sie gar keine Funktion mehr ausüben oder sich ihre früheren Funktionen überlebt haben. Klein sollten sie schließlich sein, weil in kleinen Gruppen, in denen man sich untereinander kennt, die bürokratisierenden und hierarchischen Tendenzen, die jeder Organisation innewohnen, sich am wenigsten entfalten können.«
Diese von Colin Ward aufgestellten Kriterien, nach denen anarchistische Organisationsformen erfolgreich sind, wenn sie freiwillig, funktionsgerecht und zahlenmäßig überschaubar sind, stellen jedoch nur äußere Faktoren dar. Über die innere Atmosphäre, den Lebensgeist der Organisierten wird darin nichts ausgesagt, obwohl dies doch keine nebensächliche Frage ist.
Wir alle kennen die verschiedensten Formen von Organisationen und die Stimmungen, die sie transportieren: Wir kennen anstrengende Milieus, die durch Über- und Unterordnung strukturiert sind, durch Fremdbestimmung, aber auch zwanglose Gruppen, die durch Selbstverantwortung, Freiwilligkeit, Kooperation und Solidarität geprägt sind und darum Spaß machen. Eine Vision könnte sein, Anarchie als Verallgemeinerung unserer angenehmen Erfahrungen von herrschaftsfreien Gemeinschaftsformen zu bezeichnen. In jedem emanzipatorischen Milieu steckt ein Stück vorweggenommene Freiheit. Und die schrittweise Ausdehnung solcher Milieus könnte ein Weg zur Anarchie sein.
So einfach dieser Gedanke ausgesprochen ist, so wenig geht es damit voran. Mögen sich alle Libertären nach ihrem persönlichen Saldo fragen, inwiefern sie in ihrem direkten Umfeld zum Wachsen emanzipatorischer Milieus und einer Art libertären Lebenskultur beigetragen haben. Anarchistische Bewegungen beschäftigen sich häufig mehr mit Kampagnenmanagement als mit der Schaffung emanzipatorischer Organisationsformen, in der alle beteiligten Individuen sich aufrichten und wachsen können. Wichtiger als einzelne Kampagnen ist die Haltung der daran beteiligten Individuen und ihr Zusammenhalt. Wenn Libertäre dazu beitragen wollen, daß Resignation und Furcht überwunden werden, sollten sie antiautoritäre Geselligkeit, Lebensfreude und Genuß nicht als überflüssig oder nebensächlich ansehen, sondern als Prüfstein für die Richtigkeit ihrer Bestrebungen.
Als der Anarchosyndikalist Rudolf Rocker in jungen Jahren an einer Versammlung jüdischer Libertärer in Paris teilnahm, beeindruckte ihn unter anderem die Herzlichkeit, mit der sich die 50 bis 60 Anwesenden begrüßten, und die Lebhaftigkeit, mit der sich alle an den Debatten beteiligten und er beschloß, regelmäßig an den anarchistischen Treffen teilzunehmen. Daß eine emanzipatorische Atmosphäre zu positiver Wahrnehmung in der Öffentlichkeit führt, gilt bestimmt noch heute – und nur so geraten die Verhältnisse in Bewegung. Der Schlüssel zu anarchistischen Organisationsformen ist also möglicherweise die davon ausgehende Lebensqualität.
2. Beitrag
Anarchismus und Gewalt
Anarchisten haben sehr viel Erfahrung mit Gewalt machen können, als Opfer aber auch als Täter. Oftmals blieb den Anarchisten nichts anderes übrig, denn wie Erich Mühsam schrieb:
»In gewaltsamen Auseinandersetzungen bestimmt der Feind die Waffen, die gegen ihn geführt werden müssen. …« Erich Mühsam – Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat, S.87
Lehrt die anarchistische Idee die Anwendung von Gewalt gegen Menschen?
Der Geist, der aus den Lehren und Vorstellungen von Anarchisten zu finden ist, besteht aus der Verachtung von Gewalt, insbesondere bei dem Teil der Gesellschaft, der die Anwendung von Gewalt nutzt, um Macht und Wohlstand zu sichern und vor allem zu vergrößern. Dazu noch ein Zitat von Mühsam:
»Die anarchistische Lehre schreibt keine Kampfmethode vor und lehnt keine ab, die mit Selbstbestimmung und Freiwilligkeit in Einklang steht. So ist bei gewaltsamen Aufständen der Wille des einzelnen allein ausschlaggebend für die Art seiner Mitwirkung, …« Erich Mühsam – Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat, S. 63
Wie können dann Anarchisten zu der Überzeugung gelangen Gewalt anzuwenden, wenn dies nicht in der Idee selbst begründet ist?
Eine Gesellschaftsform, die den Einzelnen oder eine Gruppe in unerträgliche Zustände zwingt, sorgt über kurz oder lang, dass pure Verzweiflung entsteht, die in einem gewaltsamen Ausbruch zu Tage treten kann.
Ursache für die Gewalt sind nicht Mordlust und eine Vorliebe für Gewalt, sondern der Mensch ist ein Produkt seiner sozialen Umwelt, wenn seine Umstände ihn ein auswegloses Elend zwingen und dieser Zustand mit der Nichtachtung seiner Mitmenschen quittiert wird, dann erwächst aus dieser Situation eine Verzweiflung, die in Gewalt umschlagen kann. Elend ist in den meisten Fällen kein selbstverschuldetes Schicksal, sondern die Konsequenz einer ungerechten Gesellschaftsform, einer durch Menschen geschaffenen Institution, die innerhalb der Gesellschaft diese Zustände zementiert und ausweitet.
Gewalt wurde und wird immer noch kontrovers in den Kreisen der Liberären diskutiert und es finden sich Vertreter des Spektrum von überzeugten Pazifisten bis zu den Anarchisten, die auch Gewalt als ein Mittel sehen.
Für die Seite, die den Pazifisten gegenübersteht, scheint Gewalt ein Mittel zu sein, um Veränderung innerhalb der Gesellschaft zu bewirken, so glaubte Johann Most zumindest damals:
»Wir (damit meinte er die anarchistischen Kommunisten (wobei nicht die Kommunisten des 20. Jahrhunderts gemeint sind)) hegen die Überzeugung ,daß durch eine revolutionäre Tat mitunter mehr Propaganda gemacht werden kann, wie durch hunderte von Agitationsreden und tausende von Broschüren oder Zeitungen, so sind wir noch lange nicht der Meinung, daß jede beliebige Gewalttat, verübt an irgend einem Repräsentanten oder Beschützer der herrschenden Klasse, eine solche Wirkung haben werde. Wir werden vielmehr nie müde, zu erklären, daß nur die richtige Tat am rechten Ort und zur passenden Zeit einen solchen Effekt haben könne; und es fällt uns gar nicht ein, die nächsten besten dummen Streiche, wenn sie auch in guter Absicht von revolutionär gesinnten Leuten ausgeführt wurden, unbesehen gutzuheißen.« Max Nettlau – Johann Most, Zwischen Autorität und Freiheit
Ein Attentat stellte gerade in der Vergangenheit eine Möglichkeit dar, sich in kurzer Zeit eines Despoten zu entledigen, für eine wirkliche gesellschaftliche Veränderung genügte es nicht.
Dass es eigentlich nicht den gewollten Effekt hatte, beschrieb Bakunin 1866! in einem Brief an Alexander Herzen über das missglückte Attentat auf Alexander II.:
»Auch ich erwarte … nicht den geringsten Nutzen von einem Zarenmorde in Rußland … da er zu Gunsten des Zaren eine zeitweilige Reaktion hervorbringt.« Michael Bakunin Sozial-politischer Briefwechsel, S. 117
Der Versuch das Attentat als propagandistisches Mittel einzusetzen, »die Propaganda der Tat«, führte nicht zum gewünschten Erfolg, sondern endete in Verfolgung, zwang viele ins Exil, in den Untergrund und brachte den Attentäter in das Gefängnis oder an den Galgen.
Dieses Verschwinden und der durch die öffentliche Presse propagierte Anarchist als gewohnheitsmäßiger Gewalttäter hat der Idee des Anarchismus meiner Ansicht nach sehr geschadet.
Für die Regierungen waren diese Akte der Gewalt ein willkommener Anlass Gesetze zur Unterdrückung abweichender politischer Gruppen zu erlassen. Ein gutes Beispiel sind die Sozialistengesetze in Deutschland im Jahre 1878.
Man sollte nie das Ausmaß der Gewalt vergessen, nicht als Entschuldigung für die anarchistische Seite, sondern nur um die Dinge im rechten Licht zu sehn, denn aus Sicht der Anarchisten waren:
»Verglichen mit der ganzen Gewalt von Kapital und Regierung, … die politischen Gewaltakte nichts als ein Tropfen in den Ozean.« Emma Goldman – Anarchism and other essays
Für mich ist es nicht allgemein möglich die Anwendung von Gewalt grundsätzlich auszuschließen, dabei vergesse ich aber nicht und möchte mit Nachdruck betonen, dass es absurd ist, Gewalt als ein Vorgehensweise heute in Betracht zu ziehen, denn »keiner kann auf diesem Gebiet mit dem Staat konkurrieren«, dazu würde es nur die entfremden, die man eigentlich versucht zu erreichen und man gibt den Mächtigen nur weitere Vorwände noch weitere gewaltsame Repression aufzubauen.