Die Stirner- und Nietzsche-Rezeption im Werk von Ret Marut / B. Traven

Referent Dr. Maurice Schuhmann


Der nachfolgende Text ist das Redemanuskript der Veranstaltung „Die Stirner- und Nietzsche-Rezeption im Werk von Ret Marut / B. Traven“, die Dr. Maurice Schuhmann am 29. März 2019 in der Bibliothek der Freien hielt.

Eine mittelfristige schriftliche Ausarbeitung dessen ist geplant.
Anregung und Kritik an: maurice.schuhmann <at> mailbox.org

Guten Abend,

anläßlich des 50. Todestages von Ret Marut / B. Traven möchte ich die Gelegenheit nutzen, um über seine Stirner- und Nietzscherezeption zu sprechen – im Kontext der zeitgenössischen anarchistischen Rezeption jener Denker. Gleichzeitig möchte ich auch ein Stück weit seinen Weg vom Individual- zum Sozialanarchisten nachzeichnen, der für eine Reihe von deutschen Anarchist*innen jener Epoche steht. Und letztendlich geht es mir auch um eine „Ehrenrettung“ der beiden großen Individualisten, die mittlerweile bei vielen jüngeren Anarchist*innen einen sehr schlechten Ruf geniessen.

Auf das „Geheimnis“ Traven oder seine Biographie möchte ich nur rudimentär eingehen, insofern biographische Fakten – sofern es solche in Bezug auf Ret Marut (1882-1969) wirklich gibt – zum Verständnis seiner Rezeption beitragen.


Mir geht es daher im Folgenden darum,

  1. zu zeigen, wo und wie sich Ret Marut zu Stirner und Nietzsche verhält. Hierfür bildet seine Zeitschrift Der Ziegelbrenner die Basis.
  2. Diese Rezeption – vor allem die Nietzsches – in einem sozialgeschichtlichen Kontext zu verorten.
  3. Den Wandel vom Individualisten zum Syndikalisten zu zeigen, der sich besonders deutlich in seinem ersten Roman Der Wobbly (in späteren Auflagen: Die Baumwollpflücker) [1925] zeigt. Dieser Roman behandelt die Geschichte eines amerikanischen Tagelöhners
  4. Kurz und knapp Parallelen zu Gustav Landauer zu benennen bzw. den potentiellen Einfluß von jenem auf die Entwicklung anzusprechen.

Ad 1:

Die Stirner-Rezeption von Ret Marut ist sehr augenscheinlich und wurde von einer Vielzahl von Autor*innen bereits konstatiert und erläutert – allen voran dem ostdeutschen Traven-Forscher Rolf Recknagel (B. Traven, Reclam Leipzig 1966). Im Ziegelbrenner, der zwischen 1917 und 1921 erschien, finden sich lediglich für zwei Bücher Werbeanzeigen. (Annoncenfinanzierte Zeitungen verachtete Ret Marut.) Eine davon ist Werbung für einen antimilitaristischen Roman (Henri Barbusse: Das Feuer), die andere für die von John Henry Mackay besorgte Ausgabe von Stirners Kleinere Schriften.

Die Kenntnisnahme von Stirner ist nicht weiter verwunderlich. Er war damals ein vielgelesener Autor – gerade in der Zeit des I. Weltkrieges und der darauffolgenden Revolution. In den autobiographisch geprägten Texten sowohl von Theodor Plivier (Des Kaisers Kulis) [1930] oder von Oscar Maria Graf (Wir sind Gefangene) [1927] taucht wiederholt sein Name auf. Er war damals sowohl für den Intellektuellen- bzw. Boehemien-Anarchismus als auch für den Arbeiter-Anarchismus eine wichtige Referenz.

Gerard Gale – welches Pseudonym (!) – ging soweit, dass er bei Ret Marut den „Versuch einer politischen Verwirklichung der Stirnerschen Philosophie“ (Gale 1963, Vorwort zu: Khundar). Die Forschungen von Recknagel wurden häufig ungeprüft übernommen. Eine der wenigen Ausnahmen ist die Dissertation von Angelika Machinek (B. Traven und Max Stirner [1985]).

Ich möchte dies hier nicht weiter vertiefen, weil es dazu bereits eine Vielzahl von Publikationen gibt (vgl. die diesbezügliche Forschungsstandanalyse in Der Einzige. Jahrbuch der Max Stirner Gesellschaft, Band 3).

Die Nietzsche-Rezeption von Ret Marut steckt hingegen noch in den Kinderschuhen. In Dominique Miethings Studie über die anarchistische Nietzsche-Rezeption (Anarchistische Deutungen der Philosophie Friedrich Nietzsches, 2016) spielt er überhaupt keine Rolle. Dies ist verwunderlich, weil bei ihm – wie bei vielen anderen Zeitgenossen auch – das Werk Stirners und Nietzsches als Symbiose gelesen wurde. Eine „reine“ Nietzsche-Rezeption – ohne Stirner ist m.E. nur bei wenigen Autoren wie z.B. John Henry Mackay und m.E. bei Gustav Landauer zu finden. Eine erste Annäherung an die Thematik habe ich 2006 im Rahmen einer B. Traven-Tagung präsentiert (abgedruckt in: Der Einzige. Jahrbuch der Max Stirner-Gesellschaft, Band 3). Auf diesem Beitrag beruht auch mein hiesiger Vortrag. Daneben gibt es auch vereinzelte Verweise in der Dissertation Der Ziegelbrenner- Das individualanarchistische Kampforgan des frühen B. Traven von Armin Richter.

Ret Marut zitiert Nietzsche nie direkt – so wenig, wie er dies in Bezug auf Stirner tut, aber er geht in einer Ausgabe auf Sekundärliteratur ein [Ellen Key: Nietzsche und Goethe, 1907]. Als deutliche Spur der Nietzsche-Rezeption wird seit den 60er Jahren der 1920 erstmalig erschienene Text Khundar (Ziegelbrenner 26/34), ein Märchen, genannt. Dieses Märchen wurde in Bezug auf den Stil wiederholt mit Nietzsches Also sprach Zarathustra verglichen. Die Referenzen zum Zarathustra sind zahlreich und z.T. sehr plump. Sein Khundar ist ebenso wie Zarathustra ein Unverstandener („Und das Volk lachte und es hönte ihn.“, S. 5), ein Einsamer („Auch ich habe keinen Freund!“, S. 15). Figuren wie den König oder den Knaben kann man u.U. auch mit den Figuren aus Zarathustra zusammenbringen. Die Deutung von jenem Märchen als stirneranisch, wie es Recknagel im Vorwort zum Reprint des Ziegelbrenners tut, verwundert. Dies mag aber auch mit der fehlenden Nietzsche-Rezeption in der DDR zu tun haben. (Erst ab 1987 wurde Nietzsche in der DDR zum Thema der Forschung. Bis dato war er als faschistoider Autor und vermeintlicher Vordenker des Nationalsozialismus eine persona non grata.)

Auffällig in den journalistischen Texten Maruts ist der wiederholte Bezug auf den Menschen bzw. die Menschheit. Im Heft 18/19 von Der Ziegelbrenner findet sich das Gedicht „Geburtswehe der Menschheit“. Das erinnert sehr stark an Nietzsche – besonders an dessen Zarathustra. Übrigens war dieses Werk auch bei den Soldaten im ersten Weltkrieg Standardlektüre. Um 1918 taucht dies verstärkt bei Ret Marut und anderen auf – z.B. bei Plivier.

Exkurs:
Auffällig ist, dass Nietzsche in der anarchistischen Rezeption auf zwei Ebenen rezipiert wird –

  1. als Akt der Befreiung – aus bürgerlichen Normen und religiöser Umnachtung.
  2. als großen Stilisten – ähnlich wie die Nietzsche-Mainstreamrezeption. Ein gutes Beispiel hierfür ist sicherlich Gustav Landauer, der inspiriert von ihm, den Roman Der Todesprediger [1893] schrieb.

Ad 2:

Die Nietzsche-Rezeption im Anarchismus verlief – äquivalent zum Mainstream, d.h. es gab mehrere Wellen – die erste um 1890, in der u.a. Landauer mit ihm in Kontakt kam, eine weitere zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die sich z.B. an Erich Mühsam und Rudolf Steiner festmachen läßt sowie eine dritte Welle im Zuge der Novemberrevolution. Ein klassisches Beispiel für diese ist Theodor Plivier, der sich in seinem Aufruf Anarchie von 1919 explizit auf Stirner und Nietzsche berief. In jener Welle läßt sich Ret Marut verorten – basierend auf den uns bekannten Fakten.

Die folgende Tabelle listet ein paar grundlegende Texte anarchistischer Nietzsche-Rezeption in Deutschland ab:

Jahr Autor Titel Art
1891 Gustav Landauer Religiöse Erziehung Bezugnahme auf Nietzsche
1893 Gustav Landauer Der Todesprediger Von Friedrich Nietzsches Philosophie beeinflußter Roman
1900 Rudolf Steiner[1] Friedrich Nietzsche Gedenkrede bei der Versammlung der „Kommenden“
1904 Erich Mühsam Krater Von Friedrich Nietzsche beeinflußte Gedichtesammlung
1910 Friedrich Nietzsche (übersetzt von Rudolf Rocker) Also sprach Zarathustra Jiddische Übersetzung
1910 Salomon Friedländer (Mynona) Friedrich Nietzsche Erschien in „Die Aktion“ von Franz Pfermfert
1917-1921 Ret Marut Der Ziegelbrenner Anarchistisches, von Nietzsche beeinflußte Zeitschrift
1919 Theodor Plivier Anarchie Revolutionärer Aufruf – stark inspiriert von F. Nietzsche
1919 Rudolf Rocker Sozialdemokratie und Anarchismus Einzelne Autoren sehen in dem Beitrag nietzscheanische Bezugspunkte bei Rockers Argumentation
1920 Ret Marut Khundar Erscheint in Der Ziegelbrenner
1935 Fritz Brupbacher 60 Jahre Ketzer Thematisiert die Bedeutung Nietzsches
1949
[ursprünglich war die Publikation für 1936 anvisiert]
Rudolf Rocker Untergang des Abendlandes (NA: Nationalismus und Kultur) Im ersten Kapitel bezieht sich Rocker auf Nietzsches Konzept vom „Willen zur Macht“

Ad 3:

Auffällig ist, dass in der Zeit der deutschen Revolution / Münchener Räterepulik der Einfluß der beiden Denker langsam nachläßt. Im Werke B. Travens sind Bezüge nur noch schwer zu finden. Aus dem frechen Individualisten mit eventuell privilegierten Hintergrund ist ein proletarischer Abenteuerschriftsteller geworden, den man am ehesten mit Jack London vergleichen kann. Jack London – und dies ist vielleicht ein sehr bedeutender Unterschied – war alles andere als ein Nietzscheaner. Sein am meisten rezipierter Roman – Der Seewolf [1904] – ist eine Anklage gegen Nietzsches Überlegungen vom Übermenschen – bzw. dessen, was Jack London glaubt daraus zu lesen.

Der (bürgerliche) Individualismus von Ret Marut weicht immer mehr.

Ad 4:

In der Sekundärliteratur taucht wiederholt die These auf, dass der Kontakt zwischen Landauer und Ret Marut maßgeblich für den Wandel im Denkens Ret Maruts entscheidend war. Demnach wäre der Individualist Ret Marut durch Landauer mit dem Denken von Kropotkin und Tolstoi in Verbindung gekommen. Mit Kropotkin (Der Anarchismus) lassen sich Stirner und Nietzsche lediglich als bürgerliche bzw. aristokratisch-gesinnte Individualisten lesen.

Inwiefern dies in seinem Werk nachvollziehbar ist, kann ich nicht beurteilen. Es fehlen hierzu Untersuchungen. Indirekt läßt sich dies aber vielleicht in Bezug auf die syndikalistische Ebene unterstreichen. Rudolf Rocker, als wichtigster Vertreter des revolutionären Syndikalismus, nahm für sich in Anspruch, Kropotkins Werk in den Anarchosyndikalismus integriert zu haben. Die Wobblys – als Vertreter eines unionistischen Ansatzes der IWW – sind vielleicht keine klassischen Anarchosyndikalisten, aber es gibt sicherlich Bezüge. Die Wobblies waren zudem auch in der mexikanischen Revolution involviert und unterstützten die Flores-Magon-Brüder und ihre liberale Partei. Es könnte sein, dass hier der Kontakt zu jener Bewegung entstand.

Gustav Landauer hat eine ähnliche Entwicklung wie Ret Marut / B. Traven durchgemacht. Der junge Landauer war zeitweilig ein glühender Verehrer von Max Stirner, bevor er sich dem sozialen Anarchismus zuwendete. Nachdem er zeitweilig Stirners bürgerlichen Namen als Pseudonym verwendete, tut er sich dann als Übersetzer von Kropotkin hervor. Ein Stück weit verhält sich dies vielleicht auch im Falle Erich Mühsams ähnlich. Aus dem Bohemien und Kain-Herausgeber wird in den letzten Jahren der Verfasser der Befreiung der Gesellschaft vom Staat (1932). Vielleicht ist der radikale Individualismus weitgehend ein Vorrecht der Jugend, während der Anarchokommunismus oder -sozialismus Ausdruck einer gewissen Reife ist.

Ob Landauers Einfluß auf Ret Marut wirklich so groß war, läßt sich leider anhand der uns bekannten Dokumente leider nicht ermitteln. Ähnlich wie Landauer scheint B. Traven sich nie endgültig von Nietzsche losgesagt zu haben. Das Kaschieren seiner eigenen Identität – abgesehen von der Angst vor Repressalien wegen seiner mutmasslichen Beteiligung an der Münchener Räterepublik, läßt sich auch mit einem Postulat Nietzsches verbinden – wenn das Werk spricht, hat der Autor zu schweigen. Wie kaum ein zweiter hat B. Traven dies vorgelebt – und sich als Nietzscheaner gezeigt.


  1. ^ Steiner bekannte sich zu jener Zeit noch zum Individualanarchismus – Mackay‘scher Prägung.