Eine Veranstaltung in der Bibliothek der Freien am Freitag, 20. Juni 2003 [Ankündigung ]
1. Beitrag
Anarchie ist ein zwischenmenschlicher Gewalt- und Herrschaftsverzicht. Anarchie beschreibt eine Lebensform, keine Staatsform – daher kann sie keine Macht über Nacht verordnen, keine Revolution kann sie herbeiführen, wenn sie nicht bereits im Leben der Menschen vorweggenommen ist.
Anarchie kann von den Menschen vorweggenommen werden, indem sie versuchen, einen Gewalt- und Herrschaftsverzicht einzuüben. Die Gelegenheit dazu bieten Situationen, bei denen Handlungsalternativen gegeben sind. Jeder Mensch ist täglich vor Dutzende von Handlungsalternativen gestellt, die aufgrund von Vorlieben und Prioritäten entschieden werden: Entschieden wird zum Beispiel nach dem Preis, nach Qualität, nach Verpackung usw. Diese Kriterien-Liste könnte nun gelegentlich erweitert werden um die Punkte Menschlichkeit oder Verantwortung. Beispiel Urlaub: Viele Menschen machen sich scheinbar nichts daraus, daß in ihrem Dritte-Welt-Urlaubsland regelmäßig gefoltert wird. Vielleicht war die Reise so billig zu haben, vielleicht war die Exotik des Reiseziels entscheidend – dabei liegt es doch auf der Hand, daß sich niemand erholen kann, wenn andere schreckliche Qualen auszustehen haben.
Natürlich müssen das alle mit sich selbst abmachen, dennoch bleibt festzuhalten, daß Libertäre vielleicht nicht gezwungen sind, bei jeder Schweinerei mitzumachen. Um einen Gewalt- und Herrschaftsverzicht einzuüben, wäre es vielmehr richtig, emanzipatorische Handlungs-Maßstäbe zu entwickeln, um ein Gefühl für die eigene Integrität und die von anderen zu bekommen. Wo generell weniger gehorcht und mehr selbst gedacht wird, greift dieser Emanzipationsprozeß bereits um sich. Freiräume werden erschlossen, Selbstbestimmung wird geprobt.
Wenn eine libertäre Lebensform denkbar ist als zwischenmenschlicher Gewalt- und Herrschaftsverzicht, können Libertäre ihre Ideen nicht besser fördern, als daß sie Formen gewalttätiger Herrschaft nicht erobern wollen, sondern ihnen den Boden entziehen. Libertäre haben in der Geschichte tatsächlich in diesem Sinne gehandelt, ohne übrigens besonders Aufhebens darum zu machen. Im Dritten Reich zum Beispiel waren die Libertären von allen politischen Richtungen proportional am meisten im Widerstand aktiv.
Alltag und Anarchie müßte also eine Herausforderung sein, der Libertäre gewachsen sind. Für falsch halte ich dagegen solche Thesen wie »Es gibt sowieso nichts Richtiges im Falschen«, mit denen sich manche selbst der Möglichkeit berauben, Facetten ihrer libertären Utopie in ihrem heutigen Handeln vorwegzunehmen. Andere setzen sogar zynisch auf eine verschärfte Ausbeutung, die zu größerer Verelendung und damit angeblich zu einem größeren libertären Potential in der Gesellschaft führen soll. Ich halte den Versuch für sinnvoller, sich mit Selbstverantwortung und Courage dem eigenen Ideal mit langem Atem graduell anzunähern. Wem das alles viel zu wenig dramatisch und viel zu unrevolutionär ist, sei an jene schwarze Buspassagierin erinnert, die sich in den 60er Jahren in den Südstaaten auf einen für Weiße reservierten Platz gesetzt hat. Sie hat eine Lawine losgetreten und das Fanal für die Bürgerrechtsbewegung in den USA gegeben. Solches Handeln zielt nicht auf einen dramatischen Effekt oder auf machtpolitisches Kalkül, sondern darauf, die eigene Integrität zu wahren. Anarchie beschreibt eine Lebensform: Eroberung des Glücks, statt Eroberung der politischen Macht.
2. Beitrag
Anarchie und Alltag ist für mich ein Gegensatzpaar. Alltag ist grauer Alltag, Einerlei, funktionieren müssen, ertragen müssen u.s.w. Die Weigerung, das ganze Leben grau werden zu lassen, ist noch nicht Anarchie, sondern eine Art Gegengift. Einen Schritt darüber hinauszugehen ist schon ein Fuß in der Tür zur Anarchie.
Der vermittels der Ökonomie umsichgreifende Leistungsgedanke ist das stärkste Hindernis, um im Alltag Freiheit und Lust auszuleben. »Was, du kennst dieses Buch nicht, du kennst diesen Film nicht? Du hast noch nie die Pyramiden gesehen oder die norwegischen Fijorde oder Macao? Pfui!«
Das leben für andere macht nicht glücklich.
Vergleichendes Glück ist eine Falle. »Ich bin glücklicher als du«, ist ganz dem Konkurrenz-gedanken geschuldet. Diesem Glücklichen glaube ich nicht. Sein Glück ist zum Vorzeigen, ein »messbare« Leistung – kein Selbstzweck.
Aber auch der in-sich-Vergleich hinkt: Liebesglück macht glücklicher als kreative Tätigkeit.
Das mag eine zeitlang so sein, aber grundsätzlich schließen sich die Lüste nicht aus, eher multiplizieren sie sich noch. Der Sinn des Glücks ist Selbstzweck der Lebenden und nicht politische Strategie.
Politische Glückversprechen setzen auf der Seite des Empfängers der glücklichen Botschaft eine Konsumentenhaltung voraus. Staat bedien mich, Politiker bedient mich, in diesem Terrain tummeln sich auch gerne politische Demagogen und sonstige Abzocker. Wie ist das Preis-Leistungsverhältnis der Anarchie? So wird sich nie was ändern.
Die Eroberung der Produktionsmittel ist eine solche Glücksversprechung, eine Einpunktinitiative, die in ihrer krudesten Form alles andere ignoriert. Ich selbst bin kein Klassenkämpfer, Klassenkampf ist eine agitatorische Simplifizierung zwecks Machtausübung-Macht als Macht über andere sollte Gegenstand libertärer Kritik bleiben.
So versuche ich im Alltag mit Menschen zu verkehren unabhänging von ihrer Stufe in der Hierarchie, ich versuche die eigene Verantwortung anzusprechen. Diejenigen, die ihr Handeln von »objektiven« Verhältnissen ableiten, keinen eigenen Spielraum sehen, sind mir wenig zugeneigt-so’n Anarchist.
Zäsur
Lange genug zum Glück gezwungen, werden die Menschen ihr Unglück »freiwillig« auf sich nehmen, allenfalls ein schräges Grinsen, ein deplazierter Furz oder das Kotzen beim Verbrennen des verhassten Feindes sind Signale des Lümmels Körper, die noch ein wenig hoffen lassen.
Moderne Kenntnisse aus der Psychologie werden von Politikern nur genutzt, um Herrschaft aufrecht zu halten. Die verworrene Lage von äußerem und innerm Zwang sollte Anlass geben, zugunsten der Eindeutigkeit des freien Willens und seines Scheiterns zu entwirren:
1. Libertäre Utopie ist eine lust- und genussvolle Angelegenheit, es bedarf dafür weder übermenschlicher Solidarität, noch opferbereiter Gutmenschen.
2. Jeder, der sich bemüht, Freuden ohne Angst zu leben, freigelassene Wünsche, glückliche Leidenschaften, lernt, wenn er auf ihre Einschränkung stößt, dass dies Glück über das Ende des Staates und der Ware führt. [Vaneigem]
3. Es gibt derzeit keine Chance für die Utopie, jeder der sich in der Hoffnung darauf verzehrt, blockiert mehr Leben, als er glaubt hervorzubringen.Übrig bleibt, das gelebte Leben, die glücklichen Momente, nicht nur als Zufall oder Kompensation zu sehen, nach dem Motto: erst die Arbeit, dann das Vergnügen, sondern das Spannungsfeld zwischen mehr leben wollen und nicht können vor lachen, aushalten und dabei die Lust nicht verlieren.
3. Beitrag
»Zur Psychopathologie des Alltagslebens« – so heißt ein von Sigmund Freud 1904 veröffentlichtes Buch. Der Untertitel zeigt die Richtung an, in die er seine Untersuchung führt. Sie handelt »Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglauben und Irrtum«, kurz über all die kleinen und größeren Abweichungen vom reibungslosen Funktionieren, wie sie auch in unserem Alltag nur allzu oft für Ärger, Irritation oder Heiterkeit sorgen.
Die Entschlüsselung der dahinter stehenden seelischen Motive gerät zu einem psychoanalytischen Wagnis mit geradezu subversiven Resultaten. In der unbeabsichtigten Entgleisung leuchtet verborgene Innenwelt auf. Ein aus den Tiefen des Unbewußten stammender Protest gegen die gesellschaftlichen Verhaltenszumutungen verschafft sich blitzlichtartig Luft.
Was sich im Getriebe des Alltags als Fehlleistung darstellt, ist in Wahrheit Manifestation eines nicht zu unterdrückenden Freiheitskampfes der Seele gegen die Zwänge des entfremdeten sozialen Mechanismus.
Selbst die bewußt angestrebte Unterwerfung stößt so an ihre Grenzen. Dafür weiß Freud zahllose Beispiele anzuführen, etwa wenn er die Geburtstagsfeier im Büro beschreibt, in welcher ein Belegschaftsmitglied den Toast ausspricht und die Kollegen dazu auffordert, auf das Wohl des Chefs aufzustoßen.1
Immer wieder bringt sich in derartigen Handlungen ein nicht zu korrumpierender Teil unseres Inneren prägnant zur Darstellung – auch gegen unseren bewußten Willen. Aus einer anarchistischen Perspektive können derartige tiefenpsychologische Interventionen in die Einförmigkeit der alltäglichen Lebensäußerung durchaus hoffnungsfroh stimmen: Am Ende besteht das Pathologische gerade in der von uns vorgefundenen Normierung des Alltagslebens. Nicht aber in der unwillkürlichen Abweichung vom Trott, die ganz im Gegenteil eine beachtliche Leistung unseres seelischen Apparates darstellt.
Der in uns schmorenden Befreiungsenergie durch bewußtes Experimentieren mit unserer eigenen Lebensgestaltung immer mehr einen Weg zu bahnen – Schritt für Schritt aus dem Dunkel der unbewußten Verdrängung hin zum Tageslicht der selbstbestimmten Tat – das wäre ein formidables Programm für mehr Anarchie im Alltag!
Interessante Anregungen und Bausteine hierzu finden sich nach meinem Empfinden auch heute noch bei dem us-amerikanischen Libertären Henry David Thoreau [1817 – 1862].
Nicht nur sein schriftstellerisches Werk, sondern auch seine ganze Persönlichkeit setzte Thoreau an das Bestreben, die individuelle menschliche Existenz als auszugestaltenes Kunstwerk der Selbstverwirklichung zu begreifen.
Zu diesem Zweck richtete Thoreau an jeden einzelnen seiner Zeitgenossen den zivilsationskritischen Appell, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und dem einfachen Leben näherzutreten. Seine 1854 verfasste Begründung ist bis heute von ungebrochener Aktualität geblieben:
»Die meisten Menschen, selbst in diesem vergleichsweise freien Lande, sind aus lauter Unwissenheit und Irrtum so sehr von künstlichen Sorgen und überflüssiger grober Arbeit in Anspruch genommen, daß die feineren Früchte des Lebens gar nicht von ihnen gepflückt werden können.« 2
Erst das Herausarbeiten aus den verinnerlichten Zwängen und kulturellen Manipulationen der bürgerlichen Leistungs- und Erwerbsgesellschaft kann einen authentischen Zugang zu dem eröffnen, was in jedem und jeder von uns in Richtung Freiheit drängt.
Diese Aufgabe will jeden Tag aufs Neue ergriffen sein. Die Strukturierung des individuellen Alltags als unablässiger Prozeß der immer wieder neu zu erringenden Selbstverwirklichung – so ließe sich Thoreaus Voluntarismus in Hinblick auf das Thema der heutigen Veranstaltung formelhaft zusammenfassen.
Dazu ist jeder Mensch frei, aber auch verantwortlich. Hierauf legt Thoreau besonderen Nachdruck. Er betont, daß wir in den allerseltensten Fällen nur durch die Umstände zum Beharren im Status Quo gezwungen sind. Die Behauptung, nichts ändern zu können, ist fast immer bloße Rechtfertigung für eigene Bequemlichkeit und Passivität. So bleibt aber die stets vorhandene Möglichkeit der Wahl eines Besseren unausgeschöpft. An dieser Verantwortung für das eigene Leben muß festhalten, wer sich nicht der bloßen Erduldung des Alltags ausliefern will. 3
Die Eroberung des Glücks ist nur über die bewußte Wahl und Auseinandersetzung mit sich selbst zu befördern. Allein auf diesem Wege kann ein Freiraum nach dem anderen geschaffen und zugleich die eigene Erpressbarkeit minimiert werden.
Und gerade der unbedingte Wille, sich nicht mehr erpressen zu lassen, ist Voraussetzung für Protest, Rebellion, Gehorsamsverweigerung und zivilen Ungehorsam. Daran hat uns vor drei Tagen der 50. Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR nur zu deutlich erinnert.
All die großen und kleinen Autoritäten zählten schon immer darauf, daß uns das Lachen vergeht, sobald sie sich groß vor uns aufbauen und uns in ihren Amtsstuben verrechnen, observieren oder übersehen.
In aller Gelassenheit entgegnete ihnen Thoreau: »Laß nichts zwischen dich und das Licht treten. Respektiere die Menschen nur als Brüder.« 4
In diesem Sinne ist eine Revolutionierung des Alltags jederzeit möglich.
1 Vgl. Sigmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglauben und Irrtum, [Fischer Taschenbuch Verlag] Frankfurt am Main, 298.-310. Tausend, 1974, S. 50.
2 Henry David Thoreau: Walden. Ein Leben in den Wäldern, [Gustav Kiepenheuer Verlag] Weimar 1964, S. 8.
3 Vgl. Stefan Kratsch: Menschen sollen wir sein, … nicht Untertanen, in: Graswurzelrevolution, 31. Jg., Nr. 274, Dezember 2002, S. 7.
4 Henry David Thoreau: Aus den Tagebüchern 1837 – 1861, [Tewes Verlasgbuchhandlung] Oelde 1996, S. 58.
4. Beitrag
I
Was ist Anarchie? Zunächst ist das ein verfassungsrechtlicher Begriff, wie Monarchie oder Polyarchie. An-Archie heißt aber nicht, dass es keine Verfassung gibt – denn irgendwelche Regeln gelten ja immer, schlimmstenfalls die des Faustrechts.
Sondern Anarchie bedeutet, dass es keine festen, absolut gültigen Verfassungsstrukturen gibt: alle Einrichtungen sind Werkzeuge, die begrenzten Zwecken dienen und jederzeit zur Disposition stehen.
Die Anarchie selbst ist nur ein »allgemeines Modell wandelbarer Strukturen« [Stowasser]. Die einzigen Regeln, die in einer Anarchie gelten, sind Regeln, welche den Pluralismus der Verfassungsformen garantieren sollen.
Verfassungsbegriffe werden allerdings von ihren Anhängern gerne zu Normbegriffen ausgeweitet. So war die Demokratie ursprünglich ein Staatsprinzip, während sie heute einen Bauplan für alle möglichen Institutionen darstellt; sie gilt sogar als »Lebensform«. Ebenso mit der Anarchie: man kann sich ausmalen, dass nicht nur die öffentliche Ordnung, sondern alle Lebensverhältnisse libertäre Gestalt annehmen sollen.
II
Bedeutet Anarchie als Verfassung das Fehlen einer festen, unbedingt geltenden Ordnung, dann könnte Anarchie, übertragen auf den Alltag, entsprechend bedeuten: den Situationen des Lebens nicht mit bestimmten, dauerhaft festgelegten und als einzig angemessen und richtig geglaubten Strategien und Haltungen gegenüberzutreten.
Hierbei geht es nicht um Willkür, sondern um Unvoreingenommenheit, um die Präzision des Handelns in jeder Situation, welche mit starren Schemata nicht zu erreichen ist.
Verzichtet man auf Forderungen wie »Das darf nicht sein!« oder »Das muss aber!«, gewinnt man Unabhängigkeit von den äußeren Umständen des Lebens. Wer seine Haltung von der Situation her aufbaut und nicht Situationen an vorgegebenen Maßstäben beurteilt, kommt mit jeder Lage zurecht. [Und zwar nicht, indem man erfolgreich damit umgehen kann, sondern indem man auf das Dogma »Ich darf nicht scheitern!« verzichtet.]
Wer sich nicht länger auf die Furcht stützt, zu scheitern, es aber auch nicht nötig hat, diese Furcht nicht zu haben, für den ergibt sich die Chance, in jeder erdenklichen Lage die innere Zufriedenheit zu bewahren. Über diese Fähigkeit zu verfügen, nenne ich »Reife«. Niemand hat sie ganz, glaube ich, aber man kann sie mehr oder weniger haben, und je mehr man sie hat, desto besser geht es einem.
III
Ist dem nun aber so, dann ergibt sich als Folgerung, dass man die Anarchie als Verfassung um so weniger braucht, je mehr man die Anarchie als Lebensform im Alltag verwirklicht hat.
Sollten wir demzufolge nicht viel lieber, anstatt müßig herumzupolitisieren, die innere Zufriedenheit in allen Lebenslagen zu entwickeln versuchen?
Im Prinzip ja, aber die Anarchie als öffentliche Ordnung ist dennoch nicht ganz unnütz. Ich sehe drei Vorzüge:
Erstens: Anarchie verringert unnötiges Leiden. Niemand ist ganz reif und daher ärgert sich jeder in gewissem Maße mit autoritären Verhältnissen herum. Eine größere Chance, mit dem eigenen Dickkopf durchzukommen ist für die meisten Menschen durchaus wünschenswert.
Zweitens: die Anarchie bietet günstige Umstände, um Reife zu entwickeln.
Sie läßt den Menschen die Freiheit, ihren eigenen Unsinn zu machen und daraus zu lernen; sie nimmt ihnen weitgehend die Chance, ihr Unglück auf die Verhältnisse zu schieben. Und da in der Anarchie die öffentlichen Strukturen die Menschen weder auf Anpassung noch auf Autonomie festlegen, können sie beides ausprobieren und lernen, dass ihnen weder das eine noch das andere viel bringt.
Drittens: es gibt ja nicht nur den Alltag! Die alten Griechen entdeckten schon, dass der Freie Mensch sich gut fühlt, jedenfalls ein gehobenes Lebensgefühl besitzt, das der Untertan nicht kennt. In der Anarchie trägt es den Namen: über mir ist nur der leere Himmel.
Dieses Gefühl läßt sich im Alltag durchaus genießen, es kann ihm Leichtigkeit geben und die Möglichkeit, Freiheit tagtäglich zu zelebrieren.
5. Beitrag
Glücklichsein ist Ziel und Sehnsucht der Menschen überhaupt. »Der Mensch wird getrieben, beherrscht von der Sorge: wie werde ich glücklich?« [Ludwig Marcuse, »Meine Geschichte der Philosophie«, Diogenes Verlag]
Die Philosophie hatte sich schon in der Antike dieser Sehnsucht angenommen und sie nicht mehr losgelassen, bis in die heutigen Tage. Am Eingang zum berühmten Garten des Epikur war zu lesen: »Freunde, das ist ein guter Ort: hier wird nichts mehr verehrt als das Glück«. Für das Verhältnis von Tugend und Glück galt ihm: »Man ehre die Tugend, wenn sie zum Glück beiträgt; wenn nicht, gebe man ihr den Abschied.« Reicht ein solches Glücksgefühl, um den Pessimismus, für den Anlaß genug ist, immer neu zu überwinden und nicht zu resignieren? [Schopenhauer: »Leben ist Leiden« und der Schmerz eine »reinigende Lauge«.] Beeindruckend und tief begründet erscheint demgegenüber die aus einem Selbstfindungsprozeß resultierende Glückserfahrung, wie sie Gustav Landauer Karl Starkblom, seine Romanfigur in »Der Todesprediger«, erleben ließ: »Ich bin ein alter Mann, aber – das sage ich heute mit frohem Stolz – ich habe erreicht, wonach ich mich so heiß gesehnt, ich bin wieder jung geworden, und ich empfinde mit der Jugend; nein, ich bin sogar ihr Vorgeschmack und Vorempfinder. Zugleich bin ich bei den jungen Zigeunern des Bürgertums, die ich aufmuntere, meine Wege zu betreten, und zugleich bin ich beim jungen Proletariat, dem ich die Freiheit bringen will, jetzt nicht die ökonomische Freiheit, die es selber erringen wird, nein, die Freiheit des einzelnen, der kühn und unbesorgt allem entgegenblickt. Ich schwanke nicht von einem zum anderen, in mir sind die Gegensätze vereint, und widerspruchsvoll ist nur das Wort, nicht das Leben. Mein Leben ist jung und reich, folge mir nach, wer kann!«
Camus beschreibt diesen Zustand des Glücks: »Auf der Mittagshöhe des Denkens lehnt der Revoltierende die Göttlichkeit ab, um die gemeinsamen Kämpfe und das gemeinsame Schicksal zu teilen. Wir entscheiden uns für Ithaka, die treue Erde, das kühne und nüchterne Denken, die klare Tat, die Großzügigkeit des wissenden Menschen. Im Lichte bleibt die Welt unsere erste und letzte Liebe. Unsere Brüder atmen unter dem gleichen Himmel wie wir; die Gerechtigkeit lebt. Dann erwacht die sonderbare Freude, die zu leben und zu sterben hilft und die auf später zu verschieben, wir uns fortan weigern.« Die innere Zerrissenheit wird überwunden, das seelische Gleichgewicht erreicht durch einen libertären Lebenssinn, Gleichheit – Gerechtigkeit – Freiheit – Ordnung ohne Herrschaft [ohne Hierarchie, ohne Staat, ohne Zentralismus / föderatives Prinzip] – ohne kapitalistische Wirtschaft, wer ohne Lebenssinn nicht leben kann, den machen sie glücklich, aber nur in der Einheit von Durchblick und Tat!
Die wesentlichen Ziele des Anarchismus geben Durchblick. Sie sind der Faden durch das Labyrinth der Lügen und Heuchelei. Es ist ein gutes Gefühl, sich nicht an der Nase herumführen lassen zu müssen, die Ursachen gesellschaftlicher Mißstände und Ungerechtigkeiten zu erkennen, das Glücksgefühl der Unabhängigkeit, einer gewissen Überlegenheit ohne Überheblichkeit zu erfahren.
Sie sind aber auch unabdingbar die Anleitung zur Tat. Der Gedanke an eine Revolution irritiert hier nicht, er gehört zum Kontext des Glücks. Die Revolution auch in unserer Zeit ist nicht undenkbar. Erinnert sei an die 1. Hälfte der revolutionären Ereignisse 1968 in Paris, die den Präsidenten Charles de Gaulle eine Flucht planen ließen. Sie könnten die Übereinstimmung von Ideal und Wirklichkeit bringen. Aber die Revolution gehört derzeitig nicht zum Kontext des Alltags, wohl aber die libertäre Subversion, die Veränderung in kleineren Schritten, Widerstand und Widerspruch.
Der Wirkungsbereich einer solchen Subversion, ist zunächst keineswegs mit Vorrang landesweit zu bemessen, sondern auf das eigene Umfeld einschließlich der Arbeitsstelle sowie auf die Kommune und die Region, wenn auch der sich immer mehr beschleunigende Globalisierungsprozeß Kontakte sogar über die Ländergrenzen hinaus erfordert. Anarchismus »im stillen Kämmerlein« reicht nicht einmal zum Trost, geschweige denn zum Glück. Bei Heuchelei, Opportunismus und Feigheit gehen die libertäre Gesinnung und die Selbstachtung vor die Hunde.
Zeichen sind zu setzen und durch Taten bzw. Unterlassungen auf den Punkt zu bringen. Auf diesem weiten Feld sei auf die Verweigerungshaltung hingewiesen. Sie hat bereits in der Geschichte ihre gewaltige Wirkung gezeigt und eine Kolonialmacht in die Knie gezwungen [Gandhi]. So ist es an der Zeit, den Legitimationsausweis dieses Systems, die Wahlen und ihre Ergebnisse, als geschickte Schummelpackung zu entlarven. Auf den Vorschlag eines Wahlboykotts sagte doch jemand, daß er jeden Einfluß des Wählers eliminiere, und unterstellt so, als ob es diesen Einfluß überhaupt gäbe. In ungelenken Schriftzügen stand an einer Häuserwand im Prenzlauer Berg: »Wählt nix, sie bescheißen jeden!«
Praktizierte Solidarität und gegenseitige Hilfe überwinden Existenzangst und bringen die Freude ins eigene Leben zurück. »Geld ersetzt menschliche Beziehungen. Wenn wir von der Tyrannei des Geldes loskommen wollen, müssen wir genau das einfach rückgängig machen: Ersetzen wir Geld durch unsere Beziehungen zueinander! Das geht ganz leicht und alltagsnah« [GWR Nov. 1999/243, Seite 12].
Zur Stabilisierung dieser Solidarität können systemüberwindende Einrichtungen in quasi exterritorialen Räumen beitragen, in denen die staatlichen Verwaltungen durch alternative Lebensformen ersetzt werden. Weltweit gibt es dazu vielfältige Modelle von Gemeinschaftsexperimenten, als Keimzellen einer nachkapitalistischen Gesellschaft?
Ein Resümee der weltweiten Entwicklung seit 1996 mit zunehmender Staatsverschuldung, Arbeitslosigkeit und Armut rechtfertigt und verlangt subversive Aktivitäten gerade auch der benachteiligten Bevölkerungsschichten.
6. Beitrag
Alltag und Anarchie. Wer träumt nicht einmal davon? Aber, aber … – Wir sind Gefangene des Systems, schrieb einmal Oskar Maria Graf in einer Buchvorstellung in den USA in den 50er Jahren.
Weit und breit – nix von sozialer Revolution. Und heute hier in der Bundesrepublik – ein Lacher. Allerdings glaubt man den Medien: Aufstand und Plünderungen im Irak. Na wer sind die Schuldigen???
Allerdings gibt es ein Land – nein nicht das … Es fängt gleichfalls mit A an – Argentinien – hier gibt es einen Tauschhandel, in dem mehr schlecht als recht 3 Millionen Menschen beteiligt sind.
Ja, ja, die Marxisten haben Recht, es hat noch keine Expropriation statt gefunden etc… Jedoch, ach wie, sie tun es und wissen oftmals selbst nichts von der anarchistischen Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts bis 1930. Schade, oder nicht?
Es gibt mehr als 100 besetzte Betriebe. Und es geht eben doch. Wie? Ganz ohne Chefs? Eine Textilfabrik, grossteil Frauen, hat’s zwei Jahre lang bewiesen. Bis sie vor kurzem von der Staatrepression geräumt wurde. Vor allem Einschüchterung? Nein, es geht weiter. Allerdings mit orthodoxen ML-Trotzkisten usw. Die Assembleas, die Stadtteilversammlungen werden durch deren Charakter ad absurdum geführt. Angeekelt vom Führungsanspruch der jeweils richtigen Partei bleibt die Bevölkerung jenen fern, zu Recht.
Es kommt noch besser. Vor einem Monat Präsidentschaftswahlen. Die traditionelle Linke mobilisiert alles. Die Rechnung erfolgt prompt: 3%! Vielleicht haben sie jenes Transparent, das in Argentinien Furore machte, nicht verstanden. Polemik – gewiss! Que se vayan todos! Sie alle sollen gehen! Sie, die PolitikerInnen, KapitalistInnen, Banker, Multis, … und auch die traditionelle orthodoxe Linke.
In jener Dezembernacht 2001, als die Regierung den Ausstand ausrief – riefen die Menschen zum Widerstand auf. Sicherlich, es kam vieles zusammen zur Empörung. Erstaunlich, ohne die allwissende Partei, ohne Durutti [selbstkritisch] … Die Leute gingen mehr oder weniger spontan auf die Straßen. Details bleiben ausgespart. Ohne Avantgarde, ohne die alleingültige Losung. Eines blieb bis heute, was die Menschen riefen: Ihr könnt gehen!
Da Argentinien eine Militärdiktatur hatte, ist auch die extreme Rechte [zum Glück] ohne Gehör. Ja, das Land am La Plata und Patagonien [lang ist es her; war mal ein libertärer Aufstand] ist in einer großen sozio-ökonomischen Krise. Aber noch lange keine Revolution.
Ins große Nachbarland Brasilien. Helmut Thielen, ein Sozialphilosophie-Professor, begleitet seit Jahren kritisch wohlwollend die Landlosen-Bewegung. Alles verläuft zäh und mühsam. Und die kleine Mehrheit, die durch gewaltfreien Widerstand ein kleines Stück Land erhielten, sind – wen sollte es wundern – keine RevolutionärInnen. Die Mehrheit sind so gesehen – zu 90% – MikrokapitalistInnen und so ist es weltweit. Selbst im großen Russland. Und wie p.m. und andere AnarchistInnen von dort berichten, überleben viele durch Stadt-Land Nahrungsanbau und Tausch. Ihnen Kommunismus oder Anarchismus anzubieten, ergibt ein abweisendes Händeschütteln.
Und hier? Viele hoffen noch auf die [un]soziale Marktwirtschaft. Oder gar schlimmer auf einen neuen Führer?! Ja, es gibt die Mikroinseln wie Projekt A in Neustadt, Kommune Luther, die Kommune Niederkaufungen, die anarchosyndikalistische Initiative FAU, die Bibliothek der Freien – alles das Sprengsel innerhalb des neoliberalen Kapitalismus. Wer denkt nicht an das Mekka Spanien, und doch hier ist heute das Konsummodell das noch bestimmende.
Also aus der Traum, wie »Ton Steine Scherben« einst sangen? Wie würde doch der »Oberlehrer Maximo Anarchico« sagen: Ein langer dorniger Weg, oft mit Rückschlägen, Verfehlungen, Hoffnungslosigkeit steht an. Was bleibt anderes übrig. Weiter die Schritte, derer vielen es bedarf zu gehen. Viele, vielleicht auch einige hier, erwarten zu viel!
Doch vor dem Haben – wie der Psychoanalytiker Fromm schrieb – ist das Sein. Das Klassenbewusstsein ist wohl berechtigt, doch diskreditiert. 1923: Zwei Personen. Auf einem internationalen Treffen von KP-Vertretern sagte in Moskau Victor Serge seinem französischen Genossen: Hier herrscht nicht die Arbeiterklasse, sondern die Partei über die Arbeiterklasse. Gleichfalls sinngemäß Max Nettlau. Mögen sie, die Bolschewiki gewonnen haben mittels Repression usw. Eines Tages wird sich diese »Sieg« rächen. Dies ließ 70 Jahre auf sich warten.
Und 1968? Kaum war die schwarze Fahne in Frankreich zu sehen, »erblühten« die roten. Untereinander noch zerstritten sie sich in der berüchtigten K-Gruppen-Zeit. Die Sieger waren hier die Grünen. Linke Geschichte ist halt eben nicht immer emanzipativ. Denn bekannt ist heute der Spruch: Wer hat uns verraten – die Sozialdemokraten. Und wer war dabei – die grüne Partei!
Stellt sich nur die Frage: Wie viele solcher vermurkster Experimente müssen noch folgen? Tja, wie wäre es denn mit dem – immer wieder – »neuen« Bewusstsein der Freiheit. Zynisch, nicht mit dem Lichtschalter, der Mode, der 100%-Bewegung, dem Mythos, der Wissenschaft, der »es muss sofort-sogleich und immer richtig Vision« entsprechen.
Die Offenheit ist eben verbunden mit Unwägbarkeiten. Selbst das Glück ist nicht ewig! Ja selbst, was Glück ist – ist eben offen. Deshalb muss Anarchie nicht alles sein. Doch die Eroberung des Glücks ist in ihr enthalten – jenseits von Licht und Schatten.
Somit zum Schluss der »Herr Oberlehrer« – welch‘ Zyniker – die Wirklichkeit kann und soll sich dem »Ideal« annähern. In diesem Sinne – ES LEBE DAS GLÜCK bzw. DIE FREIHEIT. Mit anderen Worten: DIE ANARCHIE.