Die antimilitaristische Bewegung vor allem hat sich darum verdient gemacht, den Gewaltbegriff aus der obrigkeitlichen Definitionswillkür zu befreien und das Problem gewaltförmiger Großorganisationen und der von ihnen monopolisierten Unsicherheit aufzuwerfen. Die nicht zuletzt sprachkritische Bemühung, derartige Verdrehungen und Vertauschungen von Problem und Lösung aufzuzeigen, zurückzuweisen und der Lächerlichkeit preiszugeben heilt autoritäre Hirngespinste wirkungsvoll und fördert einen wachen Geist und einen heiteren Sinn.
Pluralismus
Die Anarchie als herrschaftslos neben-, mit-, in- und durcheinander geschachtelte Fülle verschiedenster Formen des Lebens und der Gemeinschaft bietet genügend Platz für alle Menschen, eine ihnen angemessene Lebenskultur zu pflegen, auch für solche, die keine ausgeprägt anarchistischen Bedürfnisse zu befriedigen haben. Während es also verwunderlich und geradezu sinnwidrig wäre, würde sich überall eine gleichartige anarchistische Identität ausbreiten, könnte sich eine tolerante und pluralistische libertäre Bewegung als durchaus hilfreich und nützlich erweisen, die ärmlichen Schematismen der hierarchischen Gesellschaft zu überwinden.
Einfallsreichtum
Ihre Ziele können die Anarchistinnen und Anarchisten kaum besser fördern, als wenn sie in der Öffentlichkeit mitwirken, neue Formen des Lebens, der Arbeit und der Gemeinschaft zu versuchen. Hierfür ist einfallsreiche, hartnäckige, dauerhafte, geistvolle Arbeit an zweckbestimmten, offenen Organisationsmodellen gefragt, während Symbole, Aufnäher, Sprach- und Kleidervorschriften, Verbalradikalität, selbstzweckhafte bürokratische Vernetzungsspielereien oder inhaltslose Demonstration von Gewaltbereitschaft von geringem Nutzen sein dürften. Andererseits bietet eine jeweils eigenständige libertäre Lebenskultur, abgesehen von dem Wert, den sie für die Libertären selbst darstellt, die Voraussetzungen für ihre Erkennbarkeit in der Öffentlichkeit und für den zähen Lebenswillen, der ihre Existenz und ihr Selbstverständnis nicht von äußeren Erfolgen abhängig macht.
Luft und Freiheit
Wichtiger noch als die einzelnen Initiativen ist der Geist der Initiative, der sie hervorbringt. Wenn Libertäre dazu beitragen wollen, daß Resignation und Furcht überwunden werden, sollten sie Geselligkeit, Lebensfreude, Genuß und vielseitige Aktivität nicht als überflüssig oder nebensächlich abtun, sondern als Prüfstein für die Richtigkeit und Echtheit ihrer Bestrebungen ansehen. Ihr Fehlen nährt Opfermythen, die auch dann um nichts weniger reaktionär sind, wenn sie mit herrschaftskritischen Redensarten einhergehen.
Der Vereinnahmung widerstehen
Die üblichen autoritären Ordnungsmodelle versagen immer deutlicher, auch wenn ihre Defekte zunehmend durch zurechtgestutzte libertäre Organisationsideen behelfsmäßig geflickt werden, um die wachsende Rechtfertigungsnot zu lindern. Zwar kann davon kaum eine Lösung der gesellschaftlichen Probleme erwartet werden, dennoch bleiben die Vorspiegelungen von Ohnmacht, Aussichtslosigkeit und Alternativlosigkeit des eingenisteten Unfugs vorerst wirksame Täuschungen, die allzuviele Menschen um den Gebrauch ihres eigenen Verstandes bringen: den sie aber doch haben und der auch genügt, um zu erkennen, daß angesichts des fürchterlichen Extremismus, der in der Befürwortung der bestehenden Verhältnisse liegt, Anarchismus und gesunder Menschenverstand im Grunde dasselbe sind.
Berlin-Friedrichstraße, Bärenschenke,
am 16. September 1997, während der Mondfinsternis,
im Gedenken an den 125. Jahrestag des Kongresses von St.Imier
Die Freien