Wie alles anfing. Vier unkontrollierte Stellungnahmen zu Frühsozialismus und Vormärz

Eine Veranstaltung in der Bibliothek der Freien am Freitag, 14. Mai 2004 [Ankündigung ]

1. Beitrag

Die Zeit des Vormärz, also die Jahre vor der Revolution vom März 1848, halte ich in zweierlei Hinsicht für interessant:

Erstens im Hinblick auf das Selbstbewußtsein dieser Dissidenten, unkonventionellen Philosophen und radikalen Demokraten, die sich durch nichts unterkriegen ließen. Sie lebten in einer bleiernen Zeit, die Könige herrschten absolut und die Zensur versuchte jeden kritischen Gedanken zu tilgen. Die kritischen Philosophen der Zeit, die Linkshegelianer, versöhnten sich dennoch nicht mit den Herrschenden. In einer Zeit öffentlich ausgestellter Frömmigkeit entwickelten sie einen radikalen Atheismus, den sie auf dem Hegelschen System dialektisch aufbauten, wodurch sich die Behörden scharf provoziert fanden. »Ich ruhe nicht eher«, schrieb einer der fähigsten Köpfe der Linkshegelianer, Bruno Bauer, »ich ruhe nicht eher, bis ich alle theologischen Fakultäten in die Luft gesprengt oder vielmehr auf ihren gläsernen Arsch gesetzt habe«.

Sein Bruder Edgar Bauer verfaßte eines der ersten anarchistischen Bücher in Deutschland Der Streit der Kritik mit Kirche und Staat’, was ihm 1845 eine Verurteilung zu vier Jahren Gefängnis eintrug, wegen »Beleidigung der Religionsgesellschaften, Majestätsbeleidigung und Erregung von Mißvergnügen gegen die Regierung«.

Das charakteristische Merkmal der Bewegung des Vormärz – das Selbstbewußtsein der Träger der Veränderung – führt auch zum zweiten interessanten Moment, das von einzelnen Personen in jener Zeit erstmals formuliert wurde: Die Überzeugung nämlich, daß der Veränderung der äußeren Welt eine Veränderung im Innern des Menschen entsprechen muß. Emma Herwegh, die Frau des bekannten Vormärz-Dichters Georg Herwegh, weniger bekannt als er, aber aufgrund ihrer Radikalität vielleicht die interessantere Figur, analysierte die Rolle der Träger der Veränderung in der Gesellschaft so:

»Die wenigsten Menschen wollen ja dasselbe, oder wollen überhaubt etwas Bestimmtes und nur eine sehr kleine Zahl will wirklich die Freiheit, als das ewig zu erstrebende Ideal, als das Einzige, das des Kampfes wert ist. Die Mehrzahl begehrt gewöhlich nur ein neues Kleid für den alten Götzen, den es dann je nach den Attributen bald Monarchie, bald Republik tauft, wobei aber im Grunde Alles beim Alten, jeder Stein unverrückt bleibt, und es nur auf etwas mehr oder minder Heuchelei herauskommt. Daß zu einer neuen Welt vor Allem neuer Stoff gehört, neue breite Weltanschauungen, Urmenschen, wenn man sich so ausdrücken darf, um dem alten Egoismus; der alten Thorheit und civilisirten Barbarei dem Wesen nicht nur dem Schrein nach den Garaus zu machen, – daran denken die Wenigsten, geschweige daß sie fähig oder Willens wären, sich selbst mit umzuschaffen – und ohne das, geht’s nicht ehrlich vorwärts.«

Dieser Überzeugung hing auch Michael Bakunin an, der mit Emma und Georg Herwegh in der Zeit des Vormärz eng befreundet war, und eine Handvoll weiterer Vollblutrevolutionäre jener Zeit.

In ihrer Mehrzahl waren diese Rebellen seit Mitte der 1840er Jahre gezwungen, im Exil in Frankreich zu leben. An der Pariser Februarrevolution 1848 nahmen sie jedoch kräftigen Anteil, Georg Herwegh z.B. war am Sturm auf den Königspalast beteiligt und schnitt sich ein Stück von dem purpurroten Thronumhang des französischen Königs Louis-Philipp ab. Diesen Stofffetzen trug er bis an sein Lebensende bei sich und bewahrte sich auch sonst seine rebellische Vormärz-Natur. Dem 1871 von Bismarck geschaffenen Deutschen Kaiserreich, das erneut alle demokratischen Hoffnungen zunichte machte, hielt Herwegh 1873 folgende Verse entgegen:

Achtzehnhundert vierzig und acht,

Als im Lenze das Eis gekracht,

Tage des Februar, Tage des Märzen,

Waren es nicht Proletarierherzen,

die voll Hoffnung zuerst erwacht

Achtzehnhundert vierzig und acht?

Achtzehnhundert vierzig und acht,

Als du dich lange genug bedacht,

Mutter Germania, glücklich verpreußte,

Waren es nicht Proletarierfäuste,

Die sich ans Werk der Befreiung gemacht

Achtzehnhundert vierzig und acht? […]

Achtzehnhundert siebzig und drei,

Reich der Reichen, da stehst Du, juchhei!

Aber wir Armen, verkauft und verraten,

Denken der Proletariertaten

Noch sind nicht alle Märze vorbei,

Achtzehnhundert siebzig und drei.

2. Beitrag

Charles Fourier ich möchte in unserer Veranstaltung über den Vorfrühling der Anarchie den Denker der universellen Harmonie und der Idee der absoluten Abweichung vorstellen: Charles Fourier.

Leben

Charles Fourier

Charles Fourier [geb. 7. April 1772 in Besançon; gest. 19. Oktober 1837 in Paris], war ein französischer Gesellschaftstheoretiker, ein Vertreter des Frühsozialismus und früher Theoretiker des Anarchismus. 1803-1804 veröffentlicht er eine Artikelserie, in der er das erste Mal seine Ideen von der »Universalen Harmonie«, der »Berechnung der sozialen und erotischen Anziehungen«; darstellt. 1808 erscheint sein erstes größeres Werk, die Theorie der vier Bewegungen [»Théorie des quatres Mouvements«]. 1815-1816 zieht sich Fourier nach Talissieu [Bugey, Dptm.] zurück und beginnt, seine zahlreichen Manuskripte zu redigieren. Ein erster »Schüler«, Just Muiron, nimmt mit ihm Kontakt auf. 1819 vollendet er den »Grand traité« [Große Abhandlung, 8 Bände], den er, stark gekürzt und von den erotischen Passagen befreit, 1821 herausbringt. Das Werk wird von der Öffentlichkeit kaum beachtet. Nach einer finanziell drückenden Phase und einem unsteten Leben zwischen Besançon, Paris, Lyon und dem Jura erscheint 1829 die klarste Formulierung der Ökonomischen Aspekte seiner Theorie in Die neue Welt der Industrie und Vergesellschaftung [Le nouveau monde industriel et sociétaire]. Gegen Ende seines Lebens legt er sich mit Robert Owen und mit den Saint-Simonisten an, zerstreitet sich mit seinen Schülern, wartet täglich um 12 Uhr Mittags in seinem Haus auf einen Mäzen, der ihm sein erstes Phalansterium finanzieren wird, wird aber auch langsam bekannt und teilweise sogar gefeiert. 1835-1836 erscheint als letztes Werk zu Lebzeiten, »La fausse industrie« [Die falsche Industrie]. Am 10. Oktober 1837 stirbt Fourier in Paris in seiner Wohnung, die er, wie alle anderen zuvor, in ein Gewächshaus voller Blumen und Pflanzen verwandelt hatte.

Hauptgedanken

Die Gedanken der damaligen Frauenbewegung ab der englischen und französischen Revolution, in der Olymp de Gouges ihre Erklärung der »Rechte der Frau« verfaßte und Mary Wollstonecraft/Frances Wright für gleiche Menschenrechte für Frauen und Männer kämpften, Flora Tristan, George Sand, Jeanne Droin, Pauline Roland und Suzanne Voilquin als Jakobinerinnen, Frühsozialistinnen und Republikanerinnen anfang des 19. Jahrhunderts aktiv wurden, waren u.a. inspiriert durch die Frühsozialisten Owen und vor allem von Charles Fourier, der in seinem Buch »Aus der neuen Liebeswelt« u.a. schrieb: »Die Harmonie entsteht nicht, wenn wir die Dummheit begehen, die Frauen auf Küche und Kochtopf zu beschränken. Die Natur hat beide Geschlechter gleichermaßen mit der Fähigkeit zu Wissenschaft und Kunst ausgestattet.« »Kann man auch nur einen Schimmer von Gerechtigkeit in dem Los erblicken, das den Frauen beschieden ist? Ist das junge Mädchen nicht eine Ware, jedem feilgeboten, der ihren Erwerb und Alleinbesitz aushandeln will? Ist ihre Zustimmung zum Ehebund nicht der blanke Hohn, erzwungen durch die Tyrannei der Vorurteile, die sie von Kindheit an bedrängen? Man will ihr einreden, sie trüge Ketten aus Blumen; doch kann sie sich über ihre Erniedrigung täuschen, selbst in jenen von Philosophie aufgeplusterten Ländern wie England, wo die Männer das Recht haben, ihre Frau mit dem Strick um den Hals zu Markte zu führen und sie wie ein Stück Vieh demjenigen zu verkaufen, der den Preis dafür zahlen will? […] Allgemein läßt sich die These aufstellen: der soziale Fortschritt vollzieht sich entsprechend den Fortschritten in der Befreiung der Frau, und der Verfall der Gesellschaftsordnung vollzieht sich entsprechend der Abnahme der Freiheit der Frau […] Die Erweiterung der Vorrechte der Frau ist das allgemeine Prinzip allen sozialen Fortschritts.« Übrigens war Fourier der Schöpfer des Begriffs Feminismus [féminisme].

Fourier ist in jeder Hinsicht der große Feind der von oben durchorganisierten Vereinheitlichung, der Tendenz vieler sozialrevolutionärer Modelle zur Monokultur nicht nur im Gesellschafts- und Arbeitsleben, sondern auch im Gefühls-, Beziehungs- und Gedankenleben. Seiner Überzeugung nach entsteht gesellschaftliche Harmonie nicht durch Unterdrückung von [ökonomischen, nach Herrschaft strebenden, sexuellen usw.] Trieben, sondern durch das Ausleben der verschiedenen, in jedem Individuum anders konzentrierten, das Talent, die geistigen Fähigkeiten, das emotionale Leben usw. betreffenden Anziehungs- oder Assoziationskräfte.

Er sieht den glücklichen Menschen als ein durch Leidenschaften bewegtes und gesteuertes Wesen, und weit davon entfernt, die Leidenschaften verändern zu wollen, glaubt er, dass sie durch »gegenlaufende« Leidenschaften zu sozialen Triebfedern in einem harmonischen, dem »Aufflug« [essort] des Menschen förderlichen Ganzen integriert werden können. Zur Illustration dieses Gedankens lässt sich Isaac Newtons Theorie der universalen Schwerkraft und der Anziehung der Gestirne heranziehen [tatsächlich hat diese Theorie auf Fouriers eigene Entdeckung einen entscheidenden Einfluss ausgeübt]: wie die Sterne und Planeten, deren Gravitation ja eigentlich bewirken müsste, dass alles, was in ihr Schwerefeld gerät, hineingezogen und verschlungen wird, durch den Ausgleich der Gegengewichte in harmonischem Kreisen gehalten werden, so bewirke auch die leidenschaftliche Anziehung unter den Menschen, frei gelassen und in ihrem Zusammenspiel, die selbsttätige Ordnung zu einem gesellschaftlichen Kosmos. Fourier war davon überzeugt, die Gesetze der leidenschaftlichen Anziehung entdeckt zu haben, die, analog zur Anziehung der Massen, die Anziehung der Menschen bestimmen und die Gesellschaft organisieren sollen: »12 primäre Leidenschaften, die unterteilt sind in fünf sensitive: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen – vier affektive: Freundschaft, Liebe, Ehrgeiz, Familiensinn – und drei distributive: Intrigentrieb, Abwechslungstrieb und Einungstrieb. Ferner existieren sekundäre Leidenschaften, tertiäre und quartiäre – insgesamt 810.« »Ordnung« ist für Fourier immer »zusammengesetzte Ordnung«, und insofern diese ideale Ordnung von ihm als umsetzbares, sozial und emotional revolutionäres Modell ins Auge gefasst wird, nennt er es Phalansterium [frz. Phalanstère, aus gr. Phalanx, »Kampfeinheit«, und lat. Monasterium, »klösterliche Gemeinschaft«]. Diese genossenschaftliche Ordnung, die Fourier meist »Harmonie« nennt, ist nicht nur eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern auch eine Liebesgemeinschaft. Die asketische, z.T. durch christliche, speziell protestantische Theologoumena »geadelte« Arbeitsmoral des Kapitalismus, die die körperliche Liebe zu einer Form der Belohnung degradiert hat, und die sich letztlich auch in den revolutionären Programmen der Sozialdemokratie und des Marxismus durchgesetzt hat, wird hier in ihrer »Zerstückelung« [frz. morcelage] einer radikalen Kritik unterworfen. Dies ist ein wichtiger Beitrag von Fourier zur Geschichte des libertären Sozialismus: eine Befreiung der Arbeit ist ohne eine Befreiung der Sexualität nicht möglich – und umgekehrt.

Aspekte: Fourier kritisierte die »zerstückelte Arbeit« »Die Zerstückelung der Arbeit ist eines der Hauptlaster der Zivilisation«. Unter Zerstückelung versteht er die Konzentration auf einen einzigen Beruf, und damit die fehlende Möglichkeit, die gesamte Produktion zu überschauen, und das daraus resultierende Streben nach individueller Bereicherung und Abkapselung. Fourier billigt jedem Mitglied der Harmonie ein Existenzminimum zu. Einen Zwang zur Arbeit gibt es nicht. Es handelt sich dabei um ein Grundrecht der Bürger, Voraussetzung ihrer Freiheit. Sein Wahlspruch war:freie und freiwillige Assoziation von Kapital, Arbeit und Talent« Die Enteignung war für Fourier eine diktatorische herangehensweise, für ihn gab es nur die Möglichkeit wenn Besitzer der Werkzeuge, Techniker und Arbeiter freiwillig einen Anfang machten und durch ihr Beispiel wirkten. Wie oben beschrieben wünschte sich Fourier, dass die Gruppe nicht vom Zufall allein geleitet, zusammentritt, sondern das persönliche Anziehung und die richtigen Proportionen wirksam werden. Für ihn ist Luxus ein positiver Begriff:»Während der Luxus in der Zivilisation dazu dient, den Ärmeren zu verdrießen, wirkt er in der Harmonie stimulierend«. Die Liebe wird bei ihm wegen des Bedürfnisses der richtigen Proportionen zur Liebesordnung. sie ist institutionalisiert [ man sollte Beziehungswechsel im »Liebeshof« registrieren lassen]. Er meint, alles sei berechenbar und so entdeckt er Serien, beschreibt Klassen, Punkte, Stufenleitern, Hebel, unterteilt die Leidenschaften und Sinne. Mit diesem Ordnungs- und Harmoniefetisch ist er Kind seiner Zeit, und das alles klingt beim ersten hören manchmal wenig freiheitlich. Andererseits gibt es in der »Harmonie« keinerlei Abartigkeiten, die Harmonie bedarf »Geschmacksrichtungen aller Art«. Keine sexuelle Leidenschaft war fremd, alles geduldet und geradezu notwendig. Denn alle Leidenschaften sind wie die »Elemente eines Orchesters«. »Die Harmonie versteht es, die schändlichsten Triebfedern der Zivilisation in Quellen der Tugend zu wandeln, die lasterhaftesten Leidenschaft wird eine ebenso glänzende Metamorphose durchmachen wie die Raupe in einen Schmetterling.« »Die Natur will in den Vergnügungen eine ungeheureVielfalt.« Harmonie zielt immer auf Gleich- und Gegengewichte. Und er legte wert auf die Übergänge und Ausnahmen, die von den Gelehrten und Philosophen zu sehr vernachlässigt worden sind. Übergänge, die ein allgemeines Gesetz in der Odnung der Natur sind. Er war Dialektiker. Er schien sich bei der Konstruktion einer idealen Gesellschaft zu langweilen und komplettierte sie durch eine Neuschöpfung der Natur. Seine Fantasien der borealen Krone wird von den Surrealisten als schwarzer Humor wahrgenommen. In der Zukunft werde ein leuchtender Ring, eine Krone aus Sonnenlicht, von jedem Punkt der Erde aus sichtbar am Pol leuchten. und ein angenehmes Klima erzeugen. Er sieht für den Zeitraum der Harmonie nicht weniger als vierzehn neue Schöpfungen vor, »Wer die gegenwärtige Schöpfung theoretisch zu erklären vermag, kann daraus auch die Theorie der zukünftigen deduzieren.« Fourier sagt für die künftigen Schöpfungen 549 neue Tierarten, davon sieben Achtel zähmbare, sowie das Erscheinen von Antikrokodilen, Antilöwen, Antiratten und unzählige weitere Neuerungen voraus, von denen die mittelmäßige Philosophie sich nichts träumen lässt. Die Atmosphäre werde gereinigt werden durch die Rückkehr von fünf Sternen, die sich der Erde freundschaftlich zugesellen und ihr die Dienste von wohlwollenden Nachbarn erweisen …

Methode

Zu seiner Methode schreibt er: »Zur Regel meiner Untersuchungen machte ich: den absoluten Zweifel und die absolute Vermeidung bisher beschrittener Wege.« Der absolute Zweifel, dass heisst die Meinung der einen sowohl wie die der anderen ohne Unterschied anzweifeln, ja selbst den Grundlagen zu mißtrauen, die sich allgemeiner Anerkennung erfreuen. Die völlige Abweichung heisst, sich von allen Methoden zu entfernen, die die unexakten Wissenschaften verwenden und immer in Opposition zu diesen Wissenschaften zu verharren; sich jenen Problemen zu widmen, an denen keiner von ihnen sich versucht hatte.

Quellen & Infos:

Charles Fourier Wikipedia

Breton: Ode an Charles Fourier, Auszug aus Breton: Anthologie des Schwarzen Humors und Fourier: Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen

Die gesammelten Werke Fouriers als PDF-Dateien auf den Online-Seiten der Französischen Nationalbibliothek.

3. Beitrag

Es heisst im Talmud:

Erinnerung wird die Erlösung bringen.

Vergessen aber ist die Vertreibung aus dem Paradies.

Vergessen ist Verlieren, ist Verlassensein.

Also erinnern wir uns – an Frühsozialismus und Vormärz, auch an die Anfänge der anarchistischen Bewegung zwischen 1789 und 1848, eine Zeit des Widerstandes und des Aufbruchs, gewissermaßen des Übergangs.

In der Zeit dieses letzten großen Überganges vor dem in der Gegenwart zu erwartenden drängen sich die subversiven Kritiker mit Vorschlägen, Programmen, sogar Entwürfen für eine gerechtere Gesellschaft. Die Entwürdigung des Menschen durch autoritäre bzw. absolutistische Regierungssysteme und schlimmes Elend war unerträglich geworden.

Am Beginn dieses halben Jahrhunderts steht William Goodwin. Ihm gelang unter dem unmittelbaren Eindruck des Verlaufes der Französischen Revolution die erste Darstellung und Begründung der Anarchie mit so einschneidenden Forderungen wie der Eliminierung des Staates und der Abschaffung des Eigentums, soweit es Ausbeutung ermöglicht. Er lehnt Gewalt als Mittel zur Realisierung seiner Ideen ab.

Am Ende dieses Zeitraumes wirkte der Italiener Carlo Pisacane, Chef des Generalstabs der Verteidigung der römischen Republik gegen die französische Armee [1848/49]. Sein Leitspruch war Freiheit und Association, den Ackerbau- sowie den Arbeitergesellschaften waren die Produktion sowie die Verteilung anvertraut. Diese Association macht er zu Bastionen gegen die Autorität. Weiterhin existieren die Gemeinde und die konstituierende Versammlung der Sachverständigen. Er gilt als Anreger für Bakunin.

Die Vorstellungen der Linken in dieser Epoche zwischen den Revolutionen waren höchst differenziert, also keineswegs durchweg anarchistisch, jedoch durchaus mit anarchistischen Elementen durchsetzt, meist kämpferisch, nicht immer revolutionär, durchweg voller Ideale und voller Haß gegen Ungerechtigkeit, der schon den Knaben Fourier prägte. Der spätere Fourier wird in der Literatur sogar als einer der Väter des Anarchismus angesehen. In der Tat machte seine Theorie jede Staatsorganistion überflüssig. Im Rahmen einer Föderation produzierender und konsumierender Kommunen könnten sie den gesamten Erdball bedecken. Andererseits geht er davon aus,dass alle bestehenden Staaten weiter existieren und neue gegründet werden können. Er verstand auch die Geschichte als einen gesetzmäßigen, durch innere Widersprüche determinierten geschichtlichen Prozeß der Höherentwicklung durch mehrere Perioden. Er lehnt auch für die letzte Periode, den Harmonismus, die Gütergemeinschaft ab, vielmehr sieht er ein Verteilungssystem vor, das neben der Arbeit noch das eingebrachte Kapital und das Talent vergütet. Auch das Erbrecht soll erhalten bleiben.

Für die Ausgewogenheit der Beziehungen innerhalb der Kommunen [Phalanxen], für das Funktionieren in Harmonie ist Voraussetzung die sensualistische Grundlage seiner Lehre, die sich aus den individuellen Trieben und den gruppenbildenden Trieben zusammensetzt. Fourier hat jeden Zwang aus diesem Gesellschaftsmodell verbannt. Das ist schlüssig, da es in seinem System keine Stelle und keine Aufgabe gibt, aus der sich eine Weisungsgewalt ableiten ließe.

»Einen »fürchterlichen Bock« habe Fourier mit der Anerkennung und Belohnung des Kapitals geschossen…«, schimpft Wilhelm Weitling in seinen »Garantien der Harmonie und Freiheit«: Der 1808 in Magdeburg geborene Schneider kam, um der preußischen Wehrpflicht zu entgehen, auf seiner Wanderschaft in Paris mit den Ideen von Babeuf in Berührung, der nach der gescheiterten Verschwörung der Gleichen 1796 in Frankreich hingerichtet wurde. Einer seiner Mitkämpfer, Buonarotti, gab die Gedanken Babeuf’s an die nächste Generation weiter. In der Barrikadenschlacht vom Mai 1839 auf französischen Boden unter Beteiligung des Bundes der Gerechten wird die Verschwörung à la Babeuf nochmals erfolglos probiert. Eine autoritäre und anarchistische Seele waren auch in der Brust von Weitling: »Eine vollkommene Gesellschaft hat keine Regierung, sondern eine Verwaltung; keine Gesetze, sondern Pflichten; keine Strafen, sondern Heilmittel« [zitiert aus seinem erwähnten Hauptwerk]. 1808 wurde er beauftragt, eine Schrift über die Gütergemeinschaft zu verfassen, die auch Ordnungen für den Familien- und Produktionsbereich enthält, zwar mit einem hierarchischen Aufbau, dem Senat und dem Ministerium an der Spitze, aber inclusive des Grundsatzes der Verantwortlichkeit und Absetzbarkeit sowie einer durch eine sogenannte Fähigkeitswahl bestimmte Wahlordnung. Spektakulär und bedeutsam im Wirken Weitlings ist seine Auseinandersetzung mit Marx, der unter Hinweis auf seine angebliche wissenschaftliche Überlegenheit die vollständige Kapitulation verlangt, wogegen Weitling erklärt hatte, »daß es nicht seine Aufgabe sei, neue ökonomische Theorien zu schaffen, sondern diejenigen anzunehmen, die, wie es sich in Frankreich gezeigt hatte, am meisten geeignet seien, den Arbeitern die Augen zu öffnen über ihre entsetzliche Lage … und ihre Hoffnung nur auf sich selbst zu setzen, auf die Errichtung der demokratisch-kommunistischen Gesellschaft. Ende Dezember 1846 ging Weitling nach Amerika.

Marx hatte bekanntlich nicht nur ihn ins Visier genommen, bei ihm gelang jedoch insofern die Liquidation, als er ihm die organisatorische Grundlage seiner Wirksamkeit entzog. Er ging auch gegen Max Stirner vor [dem wohl Wichtigsten aus dem Berliner Kreis der Freien], dessen Tätigkeit ebenfalls mit der ersten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts zusammenfällt. Zu Stirner nur folgendes, ohne dass es auf Marx ankäme: Gegen Stirner sind gewiß nicht solche Sätze ausserhalb des Zusammenhanges zu verwenden wie: »Nur aus dem Egoismus kann dem Pöbel Hilfe werden, und diese Hilfe muß er sich selbst leisten und -wird er sich leisten.« Sein Hauptwerk [Der Einzige und sein Eigentum] ist eine in sich schlüssige und logische Gedankenkonstruktion mit an Härte nicht zu überbietender Attacke gegen den Staat und alles, was sich über ihn selbst erhebt [»Mir geht nichts über Mich«]. Zu merken ist aber, daß zu seiner Zeit die Psychologie noch sehr rückständig war. Fourier demgegenüber erkannte gerade auch auf dem Boden seiner schon erwähnten Trieblehre die Unverzichtbarkeit sozialer Bindungen i.S. eines Zusammengehörigkeitsgefühls.

Die Association von Stirner beruht ganz wesentlich auf der Freiheit. Freiheitsstreben ist aber nur das eine Standbein, die Solidarität jedoch das andere. Gerade die gegenwärtige Zeit des Neoliberalismus, der gigantischen Globalisierung ist ebenfalls eine Zeit des Übergangs. Wir sollten uns also erinnern an die Erfahrungen und Lehren aus der vorhergehenden Übergangszeit, sie waren frühvollendet und hinterließen einen unersetzlichen Kompaß, der einen sicheren Kurs bietet durch Irreführung, raffinierte Propaganda und Konformismus hindurch gegen Befehl und Unterordnung und hin zu Solidarität über Grenzen hinaus. Diese Vorkämpfer waren meist Vorbild, mutig und keine Gralshüter.