Was ist eigentlich Anarchie? Vier unkontrollierte Stellungnahmen

Eine Veranstaltung in der Bibliothek der Freien am Freitag, 20. Oktober 2000

1. Beitrag

Was ist eigentlich Anarchie?

These 1:

Anarchie ist ein Begriff für die Anwesenheit von etwas Abwesendem.

an-archia: Herrscher-, Führerlosigkeit.

Wenn es also Anarchie gibt, dann ist dort jeder auf sich selbst gestellt. Eine Vorstellung, die Ängste auszulösen vermag.

Deswegen findet der Begriff Anarchie im Sinne von Gesetzlosigkeit, Unordnung und Chaos dort Verwendung, wo Ordnung als notwendig abhängig von Herrschaft empfunden wird.

These 2:

Anarchie ist Freiheit.

Ist eine Gruppe/Gesellschaft in Anarchie, hat der Einzelne/die Einzelne die Freiheit etwas tun und lassen zu können. Er/Sie muß nicht tun und lassen.

So verstandene Freiheit stößt bei den Mitmenschen auf Grenzen. [Stellt sich die Frage: Wird eine »Anarchie in den Grenzen von…« dem Begriff Anarchie noch gerecht?]

Grenzen können und müssen in einer Gesellschaft ausgehandelt werden.

Manchmal mit Gewalt.

Ausgehandelte Grenzen neigen dazu institutionalisiert zu werden.

Ein Vertrag ist ein Institut.

Dabei entstehen Rechte und Rechtssysteme mit ihren Erfreulich- und Gräßlichkeiten.

Recht zu brechen hat Folgen für den Rechtsbrecher – aber auch für das Recht.

Grenzen müssen hin und wieder neu ausgehandelt werden.

Manchmal mit Gewalt.

These 3:

Anarchie ist eine vorgestellte Utopie.

Wenn Anarchisten nach der Anarchie als einer wünschenswerten Ordnung der Gesellschaft [Anarchie als Gesellschaftsordnung!] streben, projezieren sie ihren Begriff auf die Gesellschaft.

Das hat mehr oder weniger verheerenden Folgen.

[Auch andere tun das mit noch verheerenderen Folgen]

These 4:

Anarchie wird im Anarchismus zur Ideologie.

Auch wenn Anarchisten Ideologiekritiker sind, gerinnt geistige Beweglichkeit aus Bequemlichkeit zur Ideologie, wenn das kritische Potential sich nicht mehr an die eigene Adresse wendet.

Präferenz:

Anarchie ist ein Begriff für einen Zustand, der das Gegenteil des Begriffes Hierarchie meint – einen Zustand einer Abwesenheit [an-archia] von etwas, nämlich eines hierarchischen Prinzips, eines hierarchischen Elements – eines Hierarchen – eines Führers – einer sachwaltenden Institution.

Mit beiden Begriffen kann man den Zustand eines Systems [auch einer Gesellschaft] untersuchen und dabei feststellen, wo, zu welcher Zeit, mit welcher Intensität welche der beiden Kategorien vorherrscht.

Ursachen und Folgen der Vorherrschaft lassen sich untersuchen, werten und beurteilen.

Anarchie ist so ein Begriff, mit dem operiert werden kann – kein Wert an sich.

Das gestattet [und erfordert] Distanz.

Der Begriff wird nicht auf ein Objekt projeziert und damit ist kritische Betrachtung möglich.

Nachsatz:

Menschen und ihre Verhältnisse sind gut und böse mit allen Graustufen dazwischen.

Bei den Mitmenschen ist mit allem zu rechnen.

Alles kann erhofft und alles kann befürchtet werden.

Gerade deswegen ist das Leben spannend.

Anarchie ist ein Reservoir – eine Quelle immer neuer Fragestellungen für Alltage und Sonntage – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

2. Beitrag

Worin besteht eigentlich der Sinn des Lebens?

Eine Antwort könnte lauten: In innerer Zufriedenheit und befriedigenden materiellen Lebensbedingungen. Diese zwei Aspekte können logischerweise nur zusammen auf einen Lebenssinn hinauslaufen, obwohl sie ganz unterschiedliche Richtungen anzusteuern scheinen. So stellt zum Beispiel das Verlangen nach befriedigenden materiellen Lebensbedingungen vor allem eine technische, eine organisatorische Herausforderung dar, deren Erfüllung bereits durch die Sicherstellung bestimmter sozialer Kennzahlen möglich zu sein scheint.

Ganz anders dagegen der Aspekt der inneren Zufriedenheit, der natürlich keine Sache von Kennzahlen, sondern ganz unmittelbar eine Frage des Lebensgefühls, der zwischenmenschlichen Ethik ist. Was ist eigentlich Anarchie? Anarchie könnte bedeuten die maximale Erregung dieser inneren Zufriedenheit, die dem Leben Sinn gibt. Was hat dieses Gefühl mit Anarchie zu tun? Der Anarchismus vertritt einen Gewalt- und Herrschaftsverzicht als gesellschaftliches Prinzip. Er hat die Vision einer Wiedereinsetzung des Menschen in authentische zwischenmenschliche Beziehungen, das heißt in jene Würde, aus der die innere Zufriedenheit des Individuums resultiert.

Die Würde, scheint mir, ist somit ein Schlüsselbegriff der Anarchie. Der Staat ist nicht der eigentliche Gegensatz zur Anarchie, sondern vielmehr alle un-würdigen Verhältnisse, alle ethisch defizitären Verhaltens- und Gesellschaftsformen. Die eigentlichen Anti-Anarchisten sind Schlägertrupps, die Schwächere drangsalieren, nicht Könige oder Präsidenten. Nur weil es in der Natur des Staates [und seiner Könige und Präsidenten] liegt, unwürdige Verhältnisse zu produzieren und Schwächere zu drangsalieren, wird der Staat von Anarchistinnen und Anarchisten abgelehnt. Dieselbe Ablehnung provoziert aber auch jeglicher andere Übergriff gegen die Würde des Mitmenschen, jegliche Anmaßung, ob sie von Behörden oder von aufgehetzten Spießern ausgeht. Insofern solche Übergriffe strukturellen Charakter haben, sind diese Strukturen daher aufzulösen.

Die Anarchie bedeutet also vor allem die Befreiung von unwürdigen Verhältnissen. Anarchistinnen und Anarchisten tun somit gut daran, ihr Auftreten auf die Würde ihrer Mitmenschen abzustellen. Vereinzelte anarchistische Großmäuler, Oberlehrer und Phrasendrescher müssen deshalb nicht nur als unangenehme Zeitgenossen gelten, sondern als Widerspruch in sich selbst, als lebendes Gegenargument gegen ihre eigenen Ideen. Sachentsprechend wäre dagegen die Schaffung freundschaftlicher Gemeinschaftsformen, die ohne Herrschaft und Gewalt funktionieren und dadurch einem anarchischen Ideal nahekommen. Sie können funktionieren als Keimzellen wechselseitig garantierter Würde und als Motor eines intensiven Lebensgefühls, das gegen die Verlockungen von Macht, Manipulation und Privilegien gefeit ist. Anarchistinnen und Anarchisten werden dann den Mächtigen sagen können: »Eure Privilegien? Die Zeit wird kommen, da ihr sie uns anbieten werdet, um durch deren Teilung ihnen neuen Glanz zu verleihen. Behaltet Euren Ramsch, wir wollen ihn nicht.«

3. Beitrag

Was mich am Anarchismus immer wieder aufs Neue fasziniert und was ganz wesentlich seine lebenspraktische Bedeutung für mich ausmacht, ist die ihm eigene Ethik der Respektlosigkeit. Eine freche, unnachgiebige Respektlosigkeit gegenüber autoritären Anmaßungen jedweder Art. Eine Respektlosigkeit, der alle Versuche einer Legitimation von Herrschaft und sozialen Zwangsverhältnissen zum Gegenstand ironisch-genußvoller Zerpflückung werden.

Es sind Autoren wie Max Stirner oder Oskar Maria Graf, die mir besonders am Herzen liegen. Sie haben das unverfrorene Hohngelächter auf die Gespreiztheiten menschlicher Überlegenheitssucht bis zur Meisterschaft entfaltet. Ein Eintauchen in dieses vulkanische Lachen kann zum subversiven Jungbrunnen werden. In ihm verdampft alle Heiligkeit – das wirkt egalisierend. Wie alle übrigen Menschen stehen plötzlich auch die Autoritäten nackt und bloß in ihrer profanen Lächerlichkeit da. Dieser Anblick ist befreiend.

Wachsendes Selbstwertgefühl und schwindende Lebensangst untergraben die individuelle Anpassungsbereitschaft. Auf ihren Trümmern ersteht ein Selbstbehauptungsdrang, der sich den vorgefundenen, aufgezwungenen und verinnerlichten sozialen Rollen frech entgegenstemmt. Wo einzelne aus ureigenem Antrieb den Mut finden, gesellschaftliche Bindungen zu durchbrechen und sich die Lebensformen zu schaffen, die der eigenen Entwicklung die geringsten Widerstände entgegensetzen, kann die Keimform der Anarchie erstehen: Die freie Geselligkeit auf sich selbst gestellter Persönlichkeiten.

Der staatlichen Erstickung der indivduellen Initiative setzt sie die schöpferische Selbstorganisation der menschlichen Bedürfnisse als gesellschaftliche Perspektive entgegen. Individuelle Befreiungsschläge und respektlose Ausbrüche aus gegebenen Lebensmustern zu motivieren, könnte somit zu einer der vornehmsten Aufgaben des Anarchismus werden. Das antiautoritäre Potential hat er dazu allemal. In diesem Sinne möchte ich mit einem schönen Wort von Gustav Landauer schließen: »Gruß euch, ihr Schweifenden, ihr Rastlosen, ihr Wanderer und Landstreicher und Pflastertreter, die ihr kein Wirtschaften und kein Einfügen in diese unsre Zeit vertraget.« [»Aufruf zum Sozialismus«, Verlag Büchse der Pandora, o.O. 1978, S. 153].

4. Beitrag

Anarchie – das ist vor allem Freiheit.

Aber auch Freiheit hat ihre Widersprüche.

Eigentlich wollte ich jetzt zur Gaudi eine Zigarre rauchen, jedoch als Nichtraucher und mit Rücksicht auf die, die hier sitzen und Rauch nicht abkönnen, spare ich mir das.

In der Beschäftigung mit dem anarchistischen Schriftsteller Theodor Plivier stieß ich auf meine persönlichen anarchistischen Wurzeln. Aus dem berüchtigten Arbeiterbezirk Wedding kommend, schmiß Plivier seine Maurerlehre hin und zog sprichwörtlich in die große weite Welt hinaus. Die Ferne erreichte er auf Segelschiffen, die in der Zeit der Jahrhundertwende noch in Konkurrenz zu den Dampfschiffen standen. 1914 wurde er in die Kriegsmarine eingezogen. Er beteiligte sich am Aufstand von 1918 gegen die Seekriegsführung, als diese noch einmal zur letzten großen Seeschlacht gegen England aufrief. Schließlich zog Plivier die Kutte an und zog als Prophet durch die Lande. Sein Individualismus war in ihm stark verwurzelt und hat ihn selbst gegenüber einem anarchistischen Kollektivismus Zurückhaltung üben lassen. Dies hinderte ihn aber nicht, mit der FAUD und Rudolf Rocker, dem »Anarchistenführer« [so Pliviers Biograph Harry Wilde], auf Vortragstournee zu gehen. Und prophetisch erkannte er schon 1920 die beispielhaft paradoxe Haltung der Bolschewisten. Er schrieb in einer Broschüre unter anderem:

»Spartakismus und Bolschewismus sind die Feuer, die die alte Ordnung aufbrechen, aber Feuer, die in diesem Tun sich selbst verzehren. Spartakist sein heißt Vernichter – aber auch Selbstvernichter sein.«

Manchen mag seine libertär-religiöse Haltung etwas überspitzt sein, wie er sie zum Beispiel folgendermaßen in pathetischem Tonfall ausdrückte: »Anarchie! Herrschaftslose Ordnung, aufgebaut auf der sittlichen Kraft freigewordener Einzelmenschen! Urreligion der Menschheit, Glaubensbekenntnis der Zukunft und der Zukünftigen!«

1924 sprach Plivier [jetzt nicht mehr in der Kutte sondern im Anzug – seine Zeit als Inflationsheiliger war vorüber] auf einem FAUD-Kongreß sinngemäß: Seien wir nicht zu hoffnungsfroh, wenn es den Arbeitern mal wieder besser geht, ohne den Bewußtseinswandel des / der Einzelnen ist eine bessere Welt nicht vorstellbar.

Während in Deutschland der Faschismus mit bekannter Brutalität die ArbeiterInnenbewegung zerschlug, wurde die libertäre Revolution in Spanien sowohl von Faschisten als auch von Stalinisten zerstört. Mir würde heute selbst eine massenhafte anarchistische Bewegung bedenklich vorkommen. Es geht mir aber nicht darum, jetzt nach Hause zu gehen und mich auszuheulen. Auch nicht um zu sagen: Lohnt sich das alles? Mir persönlich ist es fast egal, ob es zur Zeit eine anarchistische Bewegung gibt, denn nicht die Masse, die Anzahl der Demos usw. zählt, sondern der Mensch. Vor allem diejenigen Menschen, die libertär sind. Natürlich läßt sich über vieles köstlich streiten, zum Beispiel seit zwei Jahrzehnten über die Frage: gewaltfrei oder mit Knarre? Allerdings gegen eines verwahre ich mich: Ich will keine 100% PC-Menschen, denn Widersprüche wird es immer geben. Anarchismus heißt nicht Idealismus. Es mag und soll ein Ideal geben, nicht mehr und nicht weniger. Living my life schrieb einmal Emma Goldman; es wäre das schönste, wenn, wie Landauer meinte, jedeR Einzelne aus der Masse kommend, wieder in die Masse zurückgeht. Für mich gilt noch immer der Satz der jüdischen Anarchistin Milly Wittkop-Rocker, die vor den Progromen 1905 in Galizien nach London floh, und ihres Lebensgefährten Rudolf Rocker aus den 20er Jahren: Der Sozialismus wird frei sein oder er wird nicht sein! In diesem Sinne: Es lebe die Anarchie!

5. Beitrag

Gerhard Bauer: Was könnte sich heute noch Anarchismus nennen? Ad-hoc-Beitrag zur Schlussdebatte [der Tagung »Die rote Republik« [Mühsam-Graf-Toller], 21.-23.5.2004 in Malente]

Die Leitidee »Anarchismus« lebt von der kühnen Behauptung, noch nirgends bewiesen, aber auch bis heute unwiderlegt, dass Menschen ohne Macht, Autorität und Staat zusammenleben können, ja dass sie so viel besser leben und erst richtig zusammen leben. Von dieser zentralen Behauptung kursiert in der heutigen allgemeinen Öffentlichkeit oder Suböffentlichkeit und zirkulierte auch in der Tagung nur eine untere Linie, gewissermaßen ein Anarchismus light: Selber denkende, unangepasste Menschen wollen leben ohne störende Einflüsse, ohne Druck, Befehl, Norm, Regulierung. Sie verlangen nach maximalem Spielraum für Individuen und Individualität, wollen frei sein im Sinne von libertär [beileibe nicht der Wirtschaftsfreiheit mit all ihrer ideologischen Verbrämung]. Trotzdem hat Stirner und hat der ganze Individualanarchismus, zu Recht, eine schlechte Presse. Die Hoffnung besteht, dass die Individuen, wenn sie ihre Lebensprozesse richtig verstehen, sich nicht als egoistische »Einzige« finden, sondern Lust an Kooperation, an »gegenseitiger Hilfe« entwickeln, da sie nur durch praktizierte Solidarität zu sich selbst kommen.

Gründlich wurde im Werk unserer drei Zeugen und gleich in Dittmanns Eingangsreferat die geschichtsphilosophische und ästhetische Umwertung herausgearbeitet, ohne die der Anarchismus gar nicht funktioniert: Nicht nur sind alle Menschen gleich und gleichberechtigt, sehr anders als in der heutigen Wirklichkeit hierzulande und weltweit, sondern das Kleine, Bescheidene, Unberühmte verdient als solches besondere Beachtung. So auch das Banale, das Beschädigte und Gefährdete – denn es ist das eigentlich Wirkungsvolle, das, was überall massenhaft vorkommt. Die Linie von Hebel zu Stirner und dann überraschenderweise zu Kropotkin fand ich überzeugend. Auch Außenseiter und »Randgruppen« gehören dazu – zu denken wäre an Mühsams Agitation unter den Hopfenpflückern und immer wieder den Tippelbrüdern. Graf hat wunderbare Porträts von Außenseitern gezeichnet, vom »Schmalzerhans«, vom »Lehrer Männer«, von seinem Freund Schrimpf mit dem gekrümmt-dozierenden Zeigefinger. Er lässt sie einfach leben: in all ihrer Skurrilität und mit großer Empathie, ohne jede Beschönigung. Anarchisten denken und analysieren von »unten« her, vom Bodensatz, metaphorisch: den »Graswurzeln«.

Wichtige organisatorische Konsequenz: Die Anarchisten werden weiterhin, auch wenn die Erfahrungen nicht sehr ermutigend waren, ohne Führer, ohne Hierarchien weitermachen müssen, mit viel Misstrauen gegen alle Organisatoren, auch gegen die eigenen. Anarchismus vertraut auf die Praxis: mit gutem Willen drauf los, alle Gutwilligen zusammen, so weit sie eben kommen.

Zum größten Teil ist Anarchismus eine Frage des Mutes. Einzelne schaffen es durch Nachdenken und Hartnäckigkeit, jeden Respekt vor Institutionen, Gruppen und ihren geheiligten Gewohnheitsrechten aus sich auszureißen; sie bringen einzelne andere dazu durch Ansprechen und durch persönliche Beglaubigung. Graf hatte wunderbare Meister, darunter auch Mühsam, doch sie wurden seine Meister und Vorbilder natürlich nur deshalb, weil er gerade sie in ihrer persönlichen Unabhängigkeit lieber auf sich wirken ließ als alle großspurigen Hanseln und Macher. Er selbst wirkte in seiner Unbelangbarkeit: »unverblüfft, ungeschmerzt und ungeschreckt«, auf nahe Freunde und suchte vor allem einzelne der jüngeren Generation, später: Exponenten des Literaturbetriebs, zu ähnlichen Absagen an gängige »Distinktionsgewinne« von Respekt und Nimbus zu bringen. Die spätere »antiautoritäre Bewegung«, der heutige »zivile Ungehorsam« haben eben diese Haltung weiter entwickelt.

Beobachtungen, Urteile und Postulate verlangen danach, auch in die Zukunft ausgezogen zu werden. Also können sich Anarchisten eine utopische Dimension ihrer politischen Praxis nicht verwehren lassen, auch wenn sie jeder ausgemalten Utopie skeptisch gegenüberstehen. Dass lediglich aus den vielerlei Graswurzeln ein »dichter Rasen« entstünde, wie Horst Blume es in seinem Referat als heutige Konkretisierung des Anarchismus vorgesehen hat, wäre eine tief niederschmetternde Aussicht, weil Geschichte sich noch nie so naturalistisch und ruhig wachsend fortbewegt hat. Auch Anarchisten kommen nicht umhin, sich der Speerspitze des heutigen Kapitalismus und seiner Globalisierung zu stellen. Davon war auf dieser Tagung wenig zu spüren. Zusammenhänge zwischen den machbaren und eigenen politischen Ansätzen und dem Selbstlauf der Wirtschaft waren, wenn überhaupt, nur im schlechten Gewissen zu spüren, dass man diesen wegließ oder ungenügend bedachte. Wenn es im 21. Jahrhundert noch einen namhaften Anarchismus geben soll, wird er weiterhin über sein Verhältnis zum Sozialismus nachdenken müssen. Bei jeder Aussage über Alternativen zur gegenwärtigen Herrschaft des großen Kapitals aber muss er sich nicht dem Diktat, »positiv« zu werden, nicht dem Zwang zu fertigen Gegenvorstellungen und zur Garantie für die Machbarkeit des Vorgestellten beugen. Kritik muss kritisch bleiben, und Anarchismus ist vor allem praktizierte Kritik.

Warum die Anarchisten in der untersuchten heroischen Phase so unendlich verhasst waren, konnte in der Tagung nur gerätselt und natürlich nicht gelöst werden. Heute sind sie es nicht mehr – ist das ein schlechtes Zeichen? Sind sie harmlos, zahnlos geworden? Sichtlich sind sie nie davor gefeit, sich lächerlich zu machen. Sie [Wir] können aber das gegenwärtige Nachlassen der Angst wenigstens als Chance nutzen, können ruhiger nachdenken und vorgehen, nicht unter dem verzehrenden Druck lauter militarisierter Situationen wie Mühsam, Toller und ihre Genossen.

Anarchisten lachen auf höchst unterschiedliche Weise, aber eine gewisse Entlastung durch Humor überhaupt ist ihren Schriften, ihren Handlungen gemeinsam. Sie haben nie die Wahrheit gepachtet und können für die Richtigkeit ihrer Vorstellungen nicht garantieren. Ihre Leitideen sind »regulativ«, können anderen nur »angesonnen«, nicht geboten oder befohlen werden. [Schon Kant war in seiner Konzeption der Praxis der Urteilskraft Anarchist]. Weil sie wissen, dass jede Rede uneigentlich, zeichenhaft ist, jeder Akt also mit Humor getan und genommen werden muss, sind sie womöglich eher zu Kompromissen fähig als Anhänger absoluter politischer Ideen. Dass sie nichts ganz und nur ernst nehmen [und eben selbst nur bedingt ernst genommen werden], macht sie einigermaßen untauglich für Fanatismus. Das ist in einer Welt der aufeinander einschlagenden Fanatismen und Fundamentalismen schon viel.

Anarchisten können warten. Durruti ist längst passé, musste Enzensberger zu Beginn der 70er Jahre in seinem »Kurzen Sommer der Anarchie« feststellen. Die noch überlebenden Genossinnen und Genossen fand er in alle Welt zerstreut, zumeist in kümmerlichen Lebensumständen, ohne konkrete Perspektiven. Aber überhaupt nicht mutlos. Sie hatten nichts vergessen, nichts aufgegeben, waren weder dümmer geworden noch zerknirscht. In ihren Gesichtern und Worten fand er die einstige Bewegung am stärksten beglaubigt und präsent. Mehr nicht, aber auch nicht weniger.

[Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft, Heft 25, 2004, S. 197-199. Der Text wurde freundlicherweise vom Autor zur Verfügung gestellt]