Eine Veranstaltung in der Bibliothek der Freien am Freitag, 18. Januar 2002 [Ankündigung ]
1. Beitrag
Im Jahre 1877 kehrte Kropotkin in den schweizerischen Jura zurück, den er bereits fünf Jahre zuvor kennengelernt und sich dort zum Anarchisten bekehrt hatte. Im folgenden Jahr 1878 bereiste er auch den französischen Teil des Gebirges.
In seinem Werk »Landwirtschaft, Industrie und Handwerk«, das zunächst zwischen 1888 und 1890 in Form von Aufsätzen veröffentlicht wurde, dann als Buch 1899 und in einer zweiten Ausgabe 1913 erschien, ist ein Abschnitt über Industriedörfer im französischen Jura enthalten, aus dem ich ein wenig zitieren will:
»In St. Claude, das ein großes Zentrum für Bruyèrepfeifen ist [die in London in großen Mengen mit englischen Schutzmarken verkauft werden und von Franzosen, die England besuchen, zum Andenken an das Inselland gekauft werden], gedeihen große und kleine Werkstätten, die vom Falcon-Bach mit mechanischer Kraft versorgt werden. Über 4000 Männer und Frauen sind in diesem Gewerbe beschäftigt, und viele Arten von Nebenbeschäftigungen sind gleichzeitig aufgewachsen [Bernstein- und Hornmundstücke, Futterale etc.]. Nebenher sind an den Ufern der beiden Flüsse [Bienne und Tacon] unzählige kleine Werkstätten mit der Herstellung aller Arten von Holzartikeln beschäftigt: Streichholzschachteln, Rosenkränze, Brillenfutterale, kleine Horngegenstände und vieles andere mehr; ganz zu schweigen von einer größeren Fabrik [200 Arbeiter], in der Metermaße für die ganze Welt hergestellt werden. Gleichzeitig sind in St. Claude und in den umliegenden Ortschaften bis in das kleinste Gebirgsgehöft Tausende von Menschen damit beschäftigt, Diamanten zu schneiden [diese Industrie ist in dieser Gegend erst 15 Jahre alt], und viele andere schleifen andere weniger wertvolle Edelsteine. Und alles dieses wird in ganz kleinen Werkstätten, die mit Wasserkraft ausgerüstet sind, verrichtet.
Die Gewinnung von Eis aus einigen Seen und das Einsammeln von Eichenrinde für die Gerbereien vervollständigen das Bild dieser geschäftigen Dörfer, in denen die Industrie der Landwirtschaft die Hände reicht und moderne Maschinen und Werkzeuge so trefflich in den Dienst der kleinen Werkstätten gestellt sind.«
Zur Aktualität dieser Bemerkungen kann man sagen, dass die Gemeinde St. Claude heute immer noch existiert – was weniger selbstverständlich ist als es klingt – ; sie ist jetzt eine Kleinstadt mit 13000 Einwohnern, wovon immer noch über 200 mit der Tabakspfeifen-Herstellung beschäftigt sind, während Edelsteine nicht mehr geschnitten werden, oder nach einer anderen Quelle, doch noch. Über die Geschichte jedenfalls informiert ein Museum der Pfeife und des Diamanten“ [»Musée de la pipe et du diamant«]. Meterstab und Rosenkranz konnte ich nicht verifizieren, und Eis aus Gebirgsseen halte ich heutzutage nicht mehr für verkäuflich. Neu hingegen ist ein Golfplatz, und ganz allgemein der Tourismus hinzugekommen. Die Gegend stellt zudem ein Zentrum der französischen Spielwarenherstellung dar.
Nun fragt es sich, weshalb Kropotkin, und ich mit ihm, uns bei solchen Dörfern aufhalten.
Die Zentralisierung der Industrie, meint Kropotkin, habe dort, wo sie stattfinde, hauptsächlich keine technischen Gründe, sondern wirtschaftliche: die Zusammenfassung von Einkauf und Vertrieb erhöhe den Gewinn. Wo hingegen Landwirtschaft und Kleinindustrie gleichzeitig betrieben werde, wobei die Maschinen im Sommer der Landwirtschaft nutzen und im Winter die Industrie den Landwirten ein zusätzliches Einkommen verschafft, und wo Einkauf und Absatz genossenschaftlich statt ausbeuterisch organisiert sei, dort überall beobachtete Kropotkin einen höheren Wohlstand bei der arbeitenden Bevölkerung als in anderen Gegenden.
Der Gedanke einer ländlich-kleinindustriellen Entwicklung ist zweifellos bis heute aktuell geblieben: in den 70er Jahren predigten Autoren wie Ivan Illich und E. F. Schumacher eine angepasste Technologie für die Dritte Welt unter dem Slogan »small is beautiful«. In den 80er Jahren sah die Ökobewegung hier Möglichkeiten auch für die Industrieländer, zu einer umweltschonenderen Lebensweise überzugehen. In Ländern wie Sri Lanka oder Thailand existieren riesige Dorfentwicklungs-Bewegungen, die Armut auf durchaus kropotkinistische Weise dort bekämpfen, wo sie ist, und die so erfolgreich sind, dass inzwischen die kaum beteiligten Regierungen damit herumprahlen.
Dennoch will ich noch auf etwas anderes hinaus, als auf die ökonomische Aktualität, die das Konzept vom Industriedorf vielleicht hat.
Was an der Schilderung von St. Claude auffällt, ist der liebevoll-empirische Blick, mit dem Kropotkin Einzelheiten aufzählt. »Bei jedem Schritt im Felde, im Garten, Obstgarten, in der Milchwirtschaft und der Technik, in Hunderten kleiner Erfindungen sieht man den schöpferischen Geist dieses Volkes«, schreibt er über die Franzosen. Die Dynamik der Industrie schildert er anschaulich und mit einem Anflug von Begeisterung: »Unaufhörlich tauchen neue Industrien auf, die ihren Anfang gewöhnlich in kleinem Maßstab machen. Jede neue Fabrik ruft eine Anzahl kleiner Werkstätten ins Leben, zum Teil um der Fabrik die eigenen Bedarfartikel zu liefern, zum anderen Teil ihre Erzeugnisse einer weiteren Umwandlung zu unterziehen. … Außerdem regt die große Fabrik das Werden neuer Kleingewerbe an, indem sie neue Bedürfnisse schafft. … Je mehr Erfindungen wir haben, um so mehr Kleinindustrien werden wir haben. Je mehr Kleinindustrien wir haben, desto mehr wird sich der Erfindergeist entwickeln.«
Kropotkin zeichnet das Bild einer von Leben erfüllten kleinen Gemeinde, und dieses Bild bleibt aktuell, glaube ich. Denn was nützt es, wenn woanders etwas los ist und nicht hier, wo man gerade ist? Lebendigkeit ist etwas Zeitabhängiges; vielleicht brauchen wir heute weniger die selbstständig produzierenden, sondern eher die souverän konsumierenden Menschen.
Auch hat Kropotkin vermutlich übertrieben, wenn er fordert, die ganze Wirtschaft und Gesellschaft durch Verträge und Absprachen zu organisieren.
Dennoch bietet es sich in kleinräumigen Verhältnissen an, auf diese Weise für Dichte und Vielfalt zu sorgen. In den heutigen Städten gibt es ein paar Ecken, wo etwas los ist, wie man sagt, während überall sonst Öde und Langeweile vorherrschen. Warum eigentlich? Weshalb trägt nicht jede Gegend das Gesicht ihrer Bewohner?
Und weshalb sollte sie? Gibt es einen öffentlichen Nutzen von Vielfalt und Lebendigkeit?
Würde sich der Wirkungsradius der Menschen über die Enge von Wohnung und Familie hinaus ausdehnen, könnten sie sich vielleicht an den Gedanken einer partizipatorischen Demokratie gewöhnen, der unmittelbaren Beteiligung an der Planung und Kontrolle der öffentlichen Verwaltung.
Die ist meiner Meinung nach nicht Sache föderierter Haushalte und Werkgemeinschaften; jeder Mensch ist unmittelbar Bürger seiner Stadt und seines Landes, da es nicht angemessen ist, die gemeinschaftlichen Belange im Großen aus der Perspektive kleinräumiger Verhältnisse zu gestalten. An diesem Punkt hat für mich die Kropotkinsche Idee föderierter Freiwilligengemeinschaften ihre Grenze.
Kropotkin hat mit seinem Vorschlag einer Kooperation von hauswirtschaftlichen, genossenschaftlichen und kommunalen Wirtschaftseinheiten die alte Einsicht in den Zusammenhang von wirtschaftlicher Selbstständigkeit und geistiger Mündigkeit für seine Zeit neu formuliert. Ich glaube, sie verdient es, zu jeder Zeit neu entdeckt und erprobt zu werden.
2. Beitrag
Welchen aktuellen Zugang gibt zu Kropotkin? Um es gleich vorweg zu sagen: Mir persönlich ist dieser Zugang ziemlich schwer gefallen. Kropotkin erschien mir bei der Lektüre immer wieder sozusagen als libertärer Erzideologe, um nicht zu sagen als Begründer eines anarchistischen Triumphalismus, der seine fertige Theorie in der Tasche zu haben scheint. Um nur ein Beispiel zu nennen: Weg mit allen Gesetzen, proklamierte Kropotkin – und doch kommen die Regeln, die sich gesellschaftliche Gruppen in freier Vereinbarung selbst geben können, dem Charakter von Gesetzen mehr oder weniger nahe – solche Thesen hätte ich mir also gern feinfühliger und tiefgründiger behandelt gewünscht. Der anarchistische Historiker Max Nettlau brachte diesen Umstand ganz bemerkenswert auf den Punkt, wie ich finde, als er im Dezember 1930 an Rudolf Rocker schrieb: Furchtbar wurde die Idee von Kropotkin verengt. Eine wahre Tragödie. Kropotkin war reiner Dichter und schilderte in allem nur sich selbst.
Ein anderer Aspekt seines Denkens hat mir dagegen sehr gut gefallen: Kropotkin hat intensiver als andere Libertäre eine Voraussetzung für freiheitliche Gemeinschaftsformen herausgearbeitet, die häufig übersehen worden ist: Daß der Anarchismus nämlich als zwischenmenschlicher Gewalt- und Herrschaftsverzicht nur auf einem ethischen Fundament möglich ist. Eine umfassende Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens ist nach Kropotkin nicht nur nötig, um illegitime politische Machtverhältnisse zu stürzen; und nicht nur, um die Herrschaft der Ökonomie, die auf Ausbeutung, Spekulation und Betrug gegründet ist, umzuwälzen. Sondern auch um die Gesellschaft in ihrem Gedanken- und Gefühlsleben voranzubringen, um die sozialen Erstarrungen und Verkrustungen aufzubrechen, um alle zwischenmenschlichen Verhaltensformen auf eine neue Grundlage zu stellen. Mit dem Anarchismus stellt sich somit nicht nur die Staatsfrage, faßte Kropotkin diesen Gedanken zusammen, sondern zugleich die Frage des ethischen Fortschritts gegen die Unbeweglichkeit, die Frage humaner Entwicklungsperspektiven gegen die Verrohung, die Frage des Lebens gegen die Menschenverachtung.
Kropotkin hat mit diesen ethischen Forderungen auf einen interessanten Zusammenhang aufmerksam gemacht: Die Anarchie bedeutet auch nach seiner Vision zunächst einmal das Ende aller Herren, aber zugleich auch eine Explosion von Phantasie, Kreativität und neuen Umgangsformen. Eine Gesellschaft, die den Staat überflüssig machen will, benötigt hierzu eine Ethik zwischenmenschlicher Verhaltensformen, die auf dem entspannten Zusammenleben der Menschen beruht. Nur dadurch besteht die Chance, jede Zwangsregelung, das heißt das Wiederentstehen des Staates, überflüssig zu machen. Erst mit einem Vorsprung an ethischer Kompetenz kann mit der Entflechtung des weltweiten Apparates begonnen werden, kann die Gesellschaft die Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten wieder zu sich zurücknehmen.
Dieser Gedanke wurde von der Generation nach Kropotkin noch bedeutend weiterentwickelt – so erklärte der italienische Anarchist Errico Malatesta: Um eine Moral vernünftig bekämpfen zu können, muß man ihr theoretisch und praktisch eine höhere Moral entgegensetzen. Gustav Landauer, in diesem Punkte ebenfalls von Kropotkin inspiriert, führte diesen Gedanken zu folgendem bekanntem Abschluß: Der Staat hat solange eine Aufgabe und bleibt solange eine Notwendigkeit, wie noch nicht da ist, was ihn zu ersetzen bestimmt ist. Einen Tisch kann man umwerfen und eine Fensterscheibe zertrümmern; aber die sind eitle Wortemacher und gläubige Wortanbeter, die den Staat für so ein Ding halten, das man mal eben zertrümmern kann, um es zu zerstören. Staat ist vielmehr ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen den Menschen, ist eine Art, wie die Menschen sich zueinander verhalten; und man zerstört ihn, indem man andere Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält.
3. Beitrag
Peter Kropotkin – Von der Gewalt der Institutionen
Im Jahre 1969 erklärte George Woodcock anläßlich einer Neuveröffentlichung von Kropotkins »Memoiren eines Revolutionärs«: »Kropotkins Ideen haben größere Beständigkeit bewiesen, als man ihnen einst zugetraut hätte.«1
Meiner Meinung nach trifft das insbesondere zu auf Kropotkins tiefe und ihrem analytischen Gehalt nach zeitlose Einsicht in das Wesen und die Funktionsmechanismen hierarchisch strukturierter Institutionen.
Diese Einsicht war eine Frucht seines fünfjährigen Militärdienstes in Sibirien, einer Zeit, die Kropotkins Charakter und seinen weiteren Lebensweg entscheidend prägen sollte. Die mit ihr verbundenen Erfahrungen ließen in Kropotkin jeglichen Glauben an die Staatsdisziplin schwinden und bereiteten ihn nach seinen eigenen Worten im Alter von 25 Jahren darauf vor, Anarchist zu werden.2
1862 hatte sich der junge Kropotkin aus dem repressiven Dunstkreis des St. Petersburger Zarenhofes in die jungen sibirischen Provinzen versetzen lassen. Wie viele andere erfüllte ihn eine hoffnungsfrohe Zuversicht in den liberalen Reformeifer, für den die Spitzen der sibirischen Verwaltungsbehörden während der damaligen Zeit im gesamten Kaiserreich bekannt waren.
Seine empirischen Untersuchungen der sibirischen Sozialstruktur führten Kropotkin allerdings sehr schnell einen tiefgreifenden Gegensatz vor Augen: Die regierungsamtlichen Bemühungen, das noch weitgehend unerschlossene Land auf dem Wege staatlicher Kolonien zu besiedeln, waren bisher allesamt in schweren Mißerfolgen stecken geblieben. In wirtschaftlicher Blüte befindlich fand er nur solche Ansiedlungen, die sich gerade außerhalb des Einflusses staatlicher Institutionen herausgebildet und ihr Sozialleben in selbstverwalteten Formen gestaltet hatten.3
Beide Tendenzen wurden für Kropotkin zum Sinnbild zweier sich gegenseitig ausschließender Prinzipien der Organisation gesellschaftlichen Lebens:
Auf der einen Seite eine auf Über- und Unterordnung beruhende Struktur, in deren Horizont eine Interaktion der Individuen letztlich nur auf der Grundlage von Befehl, Gehorsam und blinder Disziplin organisierbar ist. Dieses Prinzip der Hirarchie zeitigt nach Kropotkin »[…] wunderbare Resultate bei einer miltärischen Parade, aber es versagt im wirklichen Leben völlig, wo das erreichte Ziel nur durch die Anstrengung vieler gleichgerichteter Willen erreicht werden kann.«4 Es ist ein Wesenselement aller Staatlichkeit und dominiert die Funktionsabläufe innerhalb ihrer zentralistisch-pyramidenförmig aufgebauten Institutionen. Es führt ein repressives Eigenleben, dessen Resultate mächtiger sind als der gute oder böse Willen der innerhalb dieser Maschinerie agierenden Persönlichkeiten. Selbst die ursprünglich allerbesten Absichten werden in ihren Resultaten schon allein dadurch bis zur Unkenntlichkeit verfälscht, daß die handelnde Person zuerst daran zu denken hat, was ihre Vorgesetzten sagen werden und wie sich das ganze bruchlos in die Anforderungen des Herrschaftsapparates einfügt.
Dies alles steht in einem unversöhnlichen Gegensatz zu den Momenten, welche konstitutiv sind für eine spontane – und damit nach Kropotkins Verständnis auch erst konstruktive – Entfaltung gesellschaftlicher Initiative. Eine solche beruht auf der freien Vereinigung gleichberechtigter Individuen, die ihre eigenen sozialen Angelegenheiten auf der Grundlage kommunaler Selbstorganisation nach dem Prinzip gemeinsamen Übereinkommens regeln.
Die aus der konkreten Anschauung abgeleitete Kritik hierarchischer Institutionen sollte sich für Kropotkin auch später als wirksame analytische Produktivkraft erweisen. Manches Highlight in dem von ihm formulierten Anarchismus-Konzept läßt sich meines Erachtens darauf zurückführen.
Aus heutiger Perspektive erscheinen dabei besonders Kropotkins Ausführungen zur parlamentarischen Demokratie von Interesse, wie er sie etwa 1885 in seinem Aufsatzband »Worte eines Rebellen«5 niederlegte.
Für Kropotkin ist das parlamentarische Regierungssystem gleichbedeutend mit einem »auf die Spitze getriebenen Beamtentum«6 und insofern geradezu der Inbegriff staatlich-institutioneller Herrschaft. Auf der Grundlage des repräsentativen Vertretungsprinzips ist dies auch gar nicht anders möglich: Das angeblich souveräne Volk dankt mit Abgabe der Wahlzettel alle paar Jahre aufs Neue ab, um die Gesamtheit all seiner Interessen in die Hände einer kleinen Anzahl parlamentarischer Berufspolitiker zu legen. Eine derart aberwitzige Zentralisierung ist von den so Erwählten funktional überhaupt nicht zu bewältigen. Notwendige Folge ist die faktische Ausübung ihrer sämtlichen ökonomischen, politischen, militärischen, finanziellen, industriellen und sonstigen Befugnisse durch den weitverzweigten bürokratischen Apparat der staatlichen Verwaltungsmaschinerie. Deren Eigengesetzlichkeiten bestimmen letzlich die parlamentarische Regierungstätigkeit, mit welchen inhaltlichen Vorstellungen die angeblichen Volksrepräsentanten vor der Wahl auch immer angetreten sind.
Das Problem ist also nicht der persönliche Verrat einzelner Würdenträger. Eine Kritik, die sich hierauf beschränkt, greift zu kurz und ist selbst noch der parlamentarischen Ideologie verhaftet. Hierauf legt Kropotkin großen Wert, indem er betont, daß jede Zentralgewalt, die bestimmt ist, ein Volk zu regieren, auf Grund des hierarchischen Prinzips stets verknöchernd wirkt und für die Revolution nur ein großes Hindernis darstellen kann.7
Bis in unsere Tage hinein wird Kropotkins Analyse immer wieder auf das Eindruckvollste bestätigt. Seine politische Schlußfolgerung bleibt von ungebrochener Aktualität: Auf dem Weg zur anarchistischen Gesellschaft geht es um die Schaffung einer politischen Organisationsform, »[…] die den wirklichen Bedürfnissen der Menschheit entspricht und der Auffassung, daß die beste Art frei zu sein, die ist, nicht vertreten zu sein, die öffentlichen Angelegenheiten, alle Angelegenheiten nicht der Vorsehung oder den Erwählten zu überlassen, sondern dieselben selbst zu regeln.«8
1 George Woodcock, Nachwort zu: Petr Kropotkin: »Memoiren eines Revolutionärs«, autorisierte Übersetzung von Max Pannwitz, [Insel Verlag] Frankfurt am Main 1969, S. 609. zurück
2 Vgl.: Petr Kropotkin: »Memoiren eines Revolutionärs«, autorisierte Übersetzung von Max Pannwitz, [Insel Verlag] Frankfurt am Main 1969, S. 255-256. zurück
3 Hierunter fielen z.B. die Siedlungen der Duchoborzen in der Amurgegend, einer antimilitaristischen religiösen Sekte, von deren halbkommunistischer Sozialorganisation sich Kropotkin tief beeindruckt zeigte; vgl.: Ebenda, S. 254-255. zurück
4 Ebenda, S. 255. zurück
5 Peter Kropotkin: »Worte eines Rebellen«, hrsgg. und eingeleitet von Dieter Marc Schneider, Texte des Sozialismus und Anarchismus, [Rowohlt Taschenbuch Verlag] Reinbek bei Hamburg 1972; hierin besonders: »Die repräsentative oder parlamentarische Regierung« [S. 89-116]. zurück
6 Vgl.: Ebenda, S. 101. zurück
7 Vgl.: Peter Kropotkin, »Die Pariser Kommune«, in: »Pariser Kommune 1871. Band 1: Bakunin, Kropotkin, Lavrov«, hrsgg. v. Dieter Marc Schneider, Texte des Sozialismus und Anarchismus, [Rowohlt Taschenbuch Verlag] Reinbek bei Hamburg 1971, S. 34. zurück
8 Peter Kropotkin: »Worte eines Rebellen«, hrsgg. und eingeleitet von Dieter Marc Schneider, Texte des Sozialismus und Anarchismus, [Rowohlt Taschenbuch Verlag] Reinbek bei Hamburg 1972, S. 93. zurück