Als wir vor einiger Zeit in unserem Mitarbeiterkreis der Bibliothek der Freien, die bisher liegen gebliebenen bzw. die von uns in unseren Vorträgen noch nie vorgestellten Themen durchgingen, kamen wir auf dass der Wechselbeziehung von Musik und Anarchie zu sprechen. Zwar gab es vor Jahren schon mal einen Versuch sich dieses Themas anzunehmen, doch kam er aus welchen Gründen auch immer nicht zu Stande. (die Referentin hatte ihren Beitrag buchstäblich in letzter Minute zurückgezogen) Als ich nun leichtfertiger Weise mich dieses Themas annehmen wollte, ahnte ich vielleicht warum, bot es sich mir doch in einer Komplexität dar, die ich im ersten Augenblick nicht abzuschätzen vermochte. Wenn gleich wir es zwar nicht unbedingt mit einer Quadratur des Kreises zu tun haben, so bietet doch unsere Fragestellung, nach einer genuin anarchistischen Musik eine Menge vermeintliche als auch reale Widersprüche, die ihre Beantwortung nicht gerade erleichtern. Im musiktheoretischen Verständnis Europas wurde in den letzten 2000 Jahre der Musik zum einem ein streng mathematisches Gerüst unterlegt, dass sie von den strengen Formalien der Pythagoreer, über die berühmte B-A-C-H Formel bis hin zur Zwölftonmusik in ein starres Korsett einzwängte, aus dem sie sich nur mühsam über den langen Weg einer gesteigerten Atonalität bis hin zum reinem Geräusch zu befreien suchte. (zugegeben ein fragwürdiger Befreiungsakt, der letztendlich in einer – sagen wir mal sehr anstrengenden Hörbarkeit solcher Musik gipfelte)
Zum anderen war und ist Musik natürlich die künstlerische Ausdrucksform, die am schnellsten und nachhaltigsten eine Interaktion mit dem menschlichen Gemüt eingeht, was sie nun ihrerseits, gerade zu einem Manipulationsinstrument prädestiniert. man denke da z.B. nur an die Aufnahme bestimmter Szenen bei Spielfilmen, die durch die Einspielung aufwühlender z.T. vorgesehener Musiksequenzen bei den Rezipienten eine gewollte Emotionalität hervorruft, oder an die Klänge von Marschmusik, die manchen Zuhörer unterbewusst zu bestimmten gruppendynamischen Verhalten veranlasst, dessen er sich ohne diese musikalische Manipulation nie für willens fähig erachtet hätte. (dies war im Übrigen auch einer der wahrscheinlichen Gründe weshalb André Breton der Musik stets nur Misstrauen entgegen brachte) Diese beiden hier angeführten Aspekte, lassen in der Tat Zweifel an einen befreiten und emanzipatorisch wirkenden Charakter in der Entwicklungsgeschichte der Musik und gemeint ist hiermit nur die Musik an sich aufkommen. So war denn auch der häufig wiederkehrende Tenor etlicher Diskussionen, die wir im Vorfeld zu diesem Beitrag in unserem Kreis hatten, der eine spezifisch als anarchistisch zu bezeichnende Musik gebe es nicht, wohl aber ein derartiges Liedgut, dass sich der verschiedensten musikalischen Ausdrucksweisen bedient, die im allgemeinen eher aus heutiger Sicht im konventionellen Bereichen vom volksliedartigen Protestsong über Chanson bis hin zu Rock bzw. Punk reichen.
Wenn dem nun so wäre, hätten wir es aber mit nichts weiter als typischer Agitprop zu tun und dieser Vortrag würde sich darin erschöpfen, die nun allseits bekannten Bands und Solisten mit entsprechenden Musikbeispielen vorzustellen.
Damit hätten wir uns dann auf mehr oder weniger geschickte Art an der oben gestellten Frage vorbei gemogelt, was aber nicht in meiner Absicht liegt.
Vielmehr möchte ich im Folgenden zu ergründen versuchen, ob es nicht doch musikalische Ausdrucksformen gibt, die zu Recht die Bezeichnungen: frei, unabhängig, unkommerziell, entgrenzent, bewusstseinserweiternt, emanzipatorisch oder gar libertär verdienen.
Bevor wir nun diesem Thema einer dezidierten Betrachtung unterziehen, möchte ich hier nur kurz feststellen, dass ich auf musiktheoretischem Gebiet eher ein Laie bin und somit mehr oder weniger aus der Position eines interessierten Hörers bzw. in manchen Bereiche aus der eines Fans argumentieren werde. (eventuelle Fehler möchte man mir daher nachsehen bzw. richtig stellen)
Die nun folgende Auswahl der Beispiele sowie ihrer Protagonisten, erfolgt aus rein subjektiven Erwägungen, wobei der vermeintliche Kontakt bzw. die Zugehörigkeit des einen oder anderen zu anarchistischen Kreisen eine eher untergeordnete Rolle spielt, des gleichen gilt für eventuelle Statements oder im musikalischem Bereich verwendeter Texte.
Das dieses Vortrages liegt einzig und allein in der Betrachtung gewisser musikalischer Strukturen wie Rhythmik und Harmonik sowie bestimmter Organisationsformen und Aufführungspraktiken und in wie weit sie auf libertären Vorstellungen Bezug nehmen.
Rudolf Kassner ist die Erkenntnis zu verdanken, dass der Jazz mit jedweder autoritären Gesellschaftsstruktur inkompatibel ist, was nicht zuletzt die ihm negativen Beargwöhnungen sowohl auf der real-sozialistischen als auch auf der kritischmarxistischen Seite, die da von dekadentem kapitalistischen Erscheinungsformen bis hin zu Adornos Stahlbadzitat in Bezug auf eine kapitalistische Kulturindustrie reichen. Zum anderen ist die radikale Ablehnung des Jazz seitens faschistischer Regime, wie dem des Nationalsozialismus aus ihrer Sicht nur allzu verständlich, widerspricht er doch voll und ganz seinem rassistischem Kulturideal.
Dennoch liegen die Wurzeln dieser kategorischen Ablehnung und damit seiner Inkompatibilität tiefer, nämlich im Rhythmus, genauer gesagt im Polyrhythmus verborgen. Polyrhythmische Strukturen gehören mit zum ältesten musikalischen Erbe der gesamten Menschheit, bis heute sind sie Bestandteil der Kultur vieler indigener Völker, ihre besonders vielseitigen und stärksten Ausprägungen entwickelten sich zum einen in Afrika und in einigen vorderasiatischen, sowie auch indischen Regionen. Der Hörer solcher Polyrhythmik, erlebt wenn er sich ihr vorbehaltlos überlässt, durchaus entgrenzende, tranceartige Zustände, die dann in Interaktionen durch und mit dieser Musik, wie z.B. ekstatische Tänze übergehen und somit ein Gefühl der Losgelassenheit und Befreiung erzeugen können.
Als diese vornehmlich afrikanische Polyrhythmik später in Amerika (i.B. den USA) auf die europäische Harmonik traf und ihre Protagonisten es lernten sich ebenfalls europäischer Musikinstrumente zu bedienen, schlug die Geburtsstunde des Jazz.
Die Polyrhythmik in Verbindung mit einem bis dahin unbekannten Improvisationsvermögen seiner Musiker, machte den Jazz bis heute bei seinen Kennern und Freunden zu einer beliebten und auch befreienden Musik. Es ist daher kein Wunder, dass die Vertreter autoritärer Gesellschaften, wie die oben Erwähnten den Jazz ablehnten und hassten, war Ihnen doch als rhythmische Interaktion mit der Musik der Marschtritt (wie bereits oben erwähnt) lieber als der wilde ekstatische Tanz. (Wobei zu berücksichtigen wäre, wie wir später noch sehen werden, dass die Marschmusik wenn auch in einer paraphrasierten -verfremdeten, -ja man könnte sagen parodistischen Form, bei der Geburt des Jazz eine entscheidende Rolle gespielt hat.) So haben wir denn mit der Polyrhythmik in Verbindung mit der Improvisation wie sie uns im Jazz entgegen kommt, haben wir nun vielleicht schon einen Schlüssel zu einem Musikverständnis libertärer Art in der Hand.
Bevor wir im Verlauf dieses Vortrags noch etwas genauer auf bestimmte für uns interessante Ausprägungen des Phänomens Jazz zu sprechen kommen, gehen wir erst einmal zur so genannten ernsten Musik über und schauen uns an welche für uns relevanten Ergebnisse ihr Flirt mit der Anarchie ergab.
Ein frühes Beispiel die Begriffe Anarchie und Musik in Übereinstimmung zu bringen finden wir in dem von Wassily Kandinsky und Franz Marc gemeinsam herausgegebenen berühmten Almanach »Der blaue Reiter« von 1912 vor.
Hier schreibt Thomas v. Hartmann ein ukrainischer Komponist, Pianist und Maler (Hartmann komponierte unter anderem auch die Musik zu Kandinskys abstraktem Figurentheaterstück »Der gelbe Klang«) unter der Überschrift: »Anarchie in der Musik« gleich zu Anfang folgende Sentenzen:
»Äußere Gesetze existieren nicht. Alles, wogegen sich die innere Stimme nicht sträubt, ist erlaubt. Dies ist im allgemeinen Sinne und also im Sinne der Kunst das Lebensprinzip, welches einst durch den großen Adepten des Verbum incarnata verkündet wurde. Und so ist in der Kunst im Allgemeinen und im Besonderen in der Musik jedes Mittel, welches aus der inneren Notwendigkeit entsprungen ist, richtig. Der Komponist will das zum Ausdruck bringen, was im Augenblick der Wille seiner inneren Intuition ist.«
Es ist bemerkenswert, dass hier gleich am Anfang dieses kurzen, knapp über vier Seiten reichenden manifestartigen Essays, ein neues befreiendes künstlerisches Credo angestimmt, dass auch die Komponisten von den sie jahrhundertelang einengenden musiktheoretischen Gesetzen von mathematisch – harmonischen Kompositionsschemata einer überkommenen Ästhetik entbindet.
Die nun hier in Erscheinung tretenden neuen Möglichkeiten, einer aus willkürlichen Einfällen erwachsenen Spontaneität »zum Ausdruck bringen, was im Augenblick der Wille seiner inneren Intuition ist.« kann unter damaligen Verhältnissen durchaus als befreiend angesehen werden. Im Weiteren beschreibt er in seinem Essay das »Korrespondieren der Ausdrucksmittel« – (gemeint ist hier die Einbeziehung als »kakophonisch« bezeichneter Klangkombinationen) mit der inneren Notwendigkeit die letztendlich das Wesen des Schönen eines Werkes ausmachen. Zwar bleibt er im Großen und Ganzen im weiteren Verlauf seines Essays in seinen Formulierungen ein wenig unfassbar, so fehlen z.B. namentlich vorgestellte Protagonisten der damaligen zeitgenössischen Musik, die auf diesem Weg bereits voran schritten. Ich persönlich hatte beim lesen dieses Textes immer die Musik von Igor Strawinskys 1912 uraufgeführten und später berühmten Skandalballets »Le sacre du printemps« in meinem geistigen Ohr. So sorgte doch dieses Stück, mit seinen beständig gegenläufig arrangierten schroffen Harmonien, seinem ständigen Taktwechseln und seinen teilweise ekstatisch aufbrausendem Rhythmus sowie seines Wechsels von sehr leisen zu extrem lauten Passagen für einen Tumult, der letztendlich den Abbruch der Aufführung zur Folge hatte. (Das damalig, zum größtenteils noch an als »klassisch« konotierten Kompositionstechniken und Aufführungspraktiken gewöhntem Publikum konnte und wollte eine derartige Musik nicht verstehen und empfand sie daher als Zumutung heute ist dieses Stück ein moderner »Klassiker«.)
Um nun wieder auf unseren Essay aus dem »Blauen Reiter«-Almanach zu kommen, (man möge mir diese kleine ergänzende Abschweifung zu Strawinsky verzeihen) so beendet ihn Thomas v. Hartmann mit einem bis heute für unser Thema gültigen Statement:
»Es soll also das Prinzip der Anarchie in der Kunst begrüßt werden. Nur dieses Prinzip kann uns zur strahlenden Zukunft zur neuen Wiedergeburt führen. Es soll aber auch die neue Theorie den weiteren kühnen Pfadsuchern nicht den Rücken drehen. Vielmehr soll sie die Kunst, (und gemeint ist hiermit auch immer die Musik) indem sie die wahren Sinnesgesetze entdeckt, zur noch größeren bewussteren Freiheit, zu anderen neuen Möglichkeiten führen.«
Es ist hier nicht nur interessant, dass der Begriff der Anarchie eine allgemein positive Bewertung erhält, sondern dass man seine Prinzipien auch für eine Erneuerung der Kunst und in unserem Falle besonders der Musik, geradezu ausschließlich förderlich erachtet. Besonders hervorzuheben ist hierbei die Wiederentdeckung der Sinnlichkeit in der Musik, »die wahren Sinnesgesetze« die man nun einem all zu starren auf rein mathematischen Prinzipien beruhendem Musikverständnis entgegensetzt, um so »zur photographischem noch größeren bewussteren Freiheit« zu gelangen. Die hier nun am aufscheinenden »anderen neuen Möglichkeiten« könnten hier somit nicht nur ausschließlich auf weitere musikalische Entwicklungen verweisen, sondern Interaktionen gesellschaftlichen Veränderungen vorwegnehmen, wie sie sich im allgemeinen Konzept der folgenden Avantgarden, in einer Aufhebung des Widerspruchs von Leben und Kunst manifestierte. Weiterhin interessant sind in diesem Zusammenhang, die ebenfalls im Almanach »Der Blaue Reiter« erschienenen Thesen zur freien Musik des dem Futurismus nahe stehenden russischen Kunst und Musiktheoretikers Nikolai Kulbin der hier unter folgendes für uns relevantes schreibt:
»Die Musik der Natur – das Licht, der Donner, das Sausen des Windes, das Plätschern des Wassers, der Gesang der Vögel – ist in der Auswahl der Töne frei. Die Nachtigall singt nicht nur Noten der jetzigen Musik, sondern nach allen, die ihr angenehm sind. Die freie Musik richtet sich nach denselben Gesetzen der Natur wie die Musik und die ganze Kunst der Natur.
Der Künstler der freien Musik wird wie die Nachtigall von den Tönen und Halbtönen nicht beschränkt. Er benutzt auch die Viertel- und Achteltöne und die Musik mit freier Auswahl der Töne. Das kann weder das Suchen des Grundcharakters noch die Einfachheit stören noch Ausdruck des Lebens verpflichten, denn das eben erleichtert die Stilisation.«
Interessant ist hier der sich bereits herauskristallisierende erweiterte Musikbegriff, wie er wie wir im Folgenden noch sehen werden zu einer Grundkonstanten fast aller musikalischen Avantgarden wird. Des Weiteren führt Kulbin unter der Überschrift: »Der Vorzug der freien Musik« folgende Aspekte an:
- »Neuer Genuss der ungewohnten Zusammensetzung der Töne.«
- »Neue Harmonie mit neuen Akkorden.«
- »Dissonanzen mit neuen Lösungen.«
- »Neue Melodien.«
- »Die Auswahl der möglichen Akkorde und Melodien wird außerordentlich vergrößert.«
In dieser Aufzählung treten deutlich die Bestrebungen nach einer Entgrenzung der Musik aus einer als zu starr empfundenen Tradition hervor, die letztendlich, wie das Resümee seines Textes es nun vermuten lässt, auf eine totale Befreiung von jeglicher musikalischer Konvention hinaus läuft.
»Es ist ein großer Fortschritt in der Musik möglich, wenn der Künstler gar nicht an Noten gebunden ist, sondern beliebige Zwischenräume benutzen zum Beispiel ein Drittel oder sogar ein Dreizehntel Töne u.s.w.. Diese Musik gibt eine volle Freiheit und besitzt die schon oben genannten Vorzüge der natürlichen Musik.«
Für unser Thema von entscheidendem Interesse dürfte hier zum einem die deutliche auf den Begriff Freiheit im Bezug auf musikalische Gestaltungsprinzipien sein, denn das streben nach allgemeiner um nicht zu sagen absoluter Freiheit ist letztendlich auch die jegliches anarchistisches Denken und Handeln.
Zum anderen gehört die gleichberechtigte Behandlung von rein musikalischen und nicht musikalischen akustischen Elementen wie etwa Geräuschen aus der Natur, heute zum Grundkonsens eines befreiten, wenn man so anarchistisch Musikverständnisses.
Verlassen wir nun die Gefilde des frühen 20. Jahrhunderts und somit jene Epoche der aufkommenden künstlerischen Moderne die in ihren Wechselbeziehungen von Anarchie und Musik bei genauerer Betrachtung für uns sicher noch einiges Relevantes bergen könnte, dass hier aber leider aus Zeitgründen in Anbetracht des noch vor uns liegenden Materials leider nicht berücksichtigt werden kann.
Wenden wir uns nun der Mitte des 20. Jahrhunderts und damit dem Wirken eines Mannes zu, der sich nicht nur selbst einen bekennenden Anarchisten nennt, sondern auch zum einen als einer der radikalsten und gleichzeitig auch einer der bedeutendsten Avantgardkomponisten seiner Zeit galt und weit über diese hinaus grenzüberschreitend in andere Künste hinein wirkte und noch wirkt, gemeint ist John Cage.
Cage dessen kompositorische Arbeit sich gleichermaßen zum einen auf den Anarchismus und zum anderen auf den Zen-Buddhismus bezieht, entwickelte im Verlauf seines Schaffens nicht nur die eigenwilligsten Tonschöpfungen, sondern versuchte sie mit ebenso bis dahin noch nie erlebten Aufführungsarten in Verbindung zu bringen. Sein erklärtes Ziel: »die allgemein gültigen Regeln und Grenzen der traditionellen Ausdrucksformen aufzuheben« untermauerte der us-amerikanische Komponist seit den 40er Jahren mit seiner Theorie und Praxis einer herrschaftsfreien Musik und übte so auf die nachfolgende Entwicklung der modernen Musik einen bedeutenden Einfluss aus. Grundkonsens Cages Denken ist dabei die Gleichwertigkeit jeglicher Form des Daseins, egal ob es sich hierbei um die bewusste eines Menschen oder der unbewussten eines Sandkorns handelt. Daraus resultiert für Cage die Auffassung der Gleichrangigkeit aller akustischen Phänomene, jeder Klang, jedes Geräusch, jeder Ton besitzen für ihn die gleiche Wertigkeit, dabei ist es unerheblich ob sie von einem Musikinstrument oder z.B. einem fallenden Gegenstand herrühren.
Mit dieser im Gegensatz zur traditionellen Musikauffassung, von einer hierarchischen Anordnung von Tönen stehenden Überzeugung von deren gleichwertigen Eigenständigkeit widersetzt sich Cage, den bis dahin gültigen Paradigmen jeglicher als klassisch bezeichneten Musiktheorie und schuf somit letztendlich ein erweitertes Musik bzw. musikalisches Wahrnehmungsverständnis. Ein entscheidendes für sein weiteres Schaffen war für Cage die Begegnung mit der absoluten Stille. Als er um 1950 an der Harvard University in Cambridge einen schalldichten Raum betrat, stellte Cage fest, dass er trotzdem noch Geräusche wahrnahm. Als ihm später ein Tontechniker erklärte, dass es sich hierbei um die Eigenwahrnehmung seiner Körperfunktionen wie etwa das Rauschen des Blutes handelte, war Cage von dieser Vorstellung derartig begeistert, dass er im Anschluss daran seine Idee von einer absichtslosen Musik entwickelte.
Sein erstes und wohl bekanntestes Beispiel diesem Konzept Ausdruck zu verleihen war die Komposition »4,33«, ein in seiner Radikalität die Grenze von Musik und Nichtmusik auszuloten heute unübertroffenes Stück. Die Zahl »4,33«, die den Titel dieses Stückes bezeichnet ist nichts weiter als dessen Zeitangabe währenddessen die in klassischer Besetzung auf dem Podium sitzenden Musiker nicht einen Ton spielen um danach die Bühne wieder zu verlassen. Die eigentliche Musik dieses Stückes sind also die unwillkürlichen aber auch mutwilligen Geräusche des Publikums – wie etwa Husten und oder Protestkundgebungen wie Pfeifen und Buhen, sowie der jeweiligen Örtlichkeit geschuldeten Außengeräusche wie vorbei fahrende Fahrzeuge, Vogelstimmen, Hundegebell, Kirchenglocken oder witterungsbedingte Geräusche wie z.B. Wind, Regen oder Donner. Diese bei jedem Aufführungsort sich zufällig neu herauskristallisierende Geräuschkulisse, welche letztendlich dieses Stück selbst darstellte, veranlassten Cage weiterhin dazu dem Zufallsprinzip bei seinen zukünftigen Kompositionen und Musikprojekten einen großen Stellenwert zu geben. Um sein Ziel eine absichtslose Musik zu kreieren, die vom persönlichen Geschmack des Komponisten weitgehend unabhängig sein sollte und so jegliche psychologischen und traditionellen Zusammenhänge ausschloss zu erreiche, wandte Cage bei der Ermittlung von Reihenfolgen und Wiederholungen Tonskalen für die Komposition von Stücke ohne beabsichtigter Höhepunkte verschiedenste spielerischen Techniken an, wie etwa den Münzwurf des chinesischen I Ging Orakels. Die hierbei hervorgerufenen Ergebnisse wurden anschließend in eine dafür vorbereitete Notentabelle eingetragen und es entstand so die Partitur der 1951 erschienenen Klavierkomposition »Music of Changes«, sie gilt heute als ein Schlüsselwerk der Musik 20. Jahrhunderts. Ebenfalls in diesem Zusammenhang muss hier die Komposition »Atlas Eclipticalis« erwähnt werden, bei deren Erstellung sich Cage der Konstellation von Sternen auf entsprechenden Karten bediente.
Um zum einen die Absichtslosigkeit seiner Musik zu steigern, und zum anderen dem Zufallsprinzip in seinem Werk einen noch größeren Stellenwert zu geben, verließ Cage die bis dahin gültigen tradierten Aufführungspraktiken für Musik und ersetzte sie durch völlig neue und ungewöhnliche, um sich letztendlich auch selbst in seiner traditionellen Rolle als Komponist und somit als Schöpfer musikalischer Werke in Frage zu stellen. Als besonders interessante Beispiele wären hier die Aufführungen von »imaginary Landscape NO.: 4« und »imaginary Landscape No.: 5« mit ihrem bereits an spätere Performances und Happenings denken lassenden Charakter zu erwähnen. So lässt Cage in »imaginary Landscape No.: 4« zwölf Radioapparate, ohne vorheriger Kenntnis der eingestellten Programme einschalten und sie so nacheinander, abwechselt gegeneinander oder gleichzeitig spielen. In »imaginary Landscape No.: 5« werden zweiundvierzig beliebig ausgewählte Schallplatten sich phasenweise überlagernd abgespielt. (fast eine Vorwegnahme von D.J.-Kultur und Techno) Die diesen Aufführungen zu Grunde liegenden Zeitverläufe wurden von Cage natürlich wieder durch Zufallsoperationen festgelegt. Zu dem nach allen Seiten hin grenzüberschreitenden Werk von John Cage wäre wohl noch unendlich viel zu bemerken, was hier aber leider aus Zeitgründen unterbleiben muss. Dennoch zum Abschluss dieses Kapitels noch einige Aspekte aus dem vielschichtigen Schaffen dieses Avantgardkomponisten, die deutlich machen wie sehr er zum Wegweiser künftiger musikalischer Tendenzen wurde. Ab Mitte der 60er Jahre versuchte Cage zunehmend mit definitiv nicht musikalischen Gegenständen so z.B. diverse Küchengeräte wie elektrische Mixer oder Toaster aber auch Impulsgeneratoren, Geigerzähler, Radio und Fernsehgeräte zu experimentieren, die er auf Grund ihrer spezifischen betriebseigenen Sounds selbst zu Musikinstrumenten werden ließ, diese kombinierte er in seiner »Variations VII« betitelten 1966 in einer Halle in New York, stattfindenden zum einen mit durch Elektroden hörbar gemachten Körpergeräuschen seiner Mitarbeiter sowie mit Geräuschen von außerhalb der Halle, wie dem eines Vogelhauses, des Zoos als auch die eines Restaurants oder eines Busbahnhofs, die mittels Telefonkabel direkt eingespielte, so zu einer riesigen Klanginstallation. Das Publikum, das sich während der gesamten Aufführung in der Halle frei bewegen konnte, wurde selbst zum Teil dieser Soundcollage. Es wurde hier also nicht nur die Grenzen zwischen innen und außen, sondern gleichzeitig die von Akteuren und Rezipienten sowie die zwischen Musik und Geräusch als auch die zwischen Musik und bildender respektive darstellender Kunst aufgehoben. Dieser Hang zum allumfassenden, alle Grenzen sprengenden, total befreienden Gesamtkunstwerk blieb eine Grundkonstante im Werk von Cage vom Anfang der 60er Jahre bis zu seinem Tod 1992, in diesem Zeitraum kam es zur zahlreichen Zusammenarbeit, sowohl mit darstellenden Künstlern wie der Balletkompanie von Merce Cunningham als auch mit bildenden Künstlern wie dem Maler und Objektkünstler Robert Rauschenberg, die er sogar für gemeinsame, interaktive Projekte ähnlich dem oben genannten gewinnen konnte.
Cage der sich auch selbst als bildender Künstler einen Namen machte, es gibt von ihm eine Anzahl von abstrakten Zeichnungen, Collagen und objektartiger Skulpturen die nicht nur als Illustrierung oder Kommentar seines Musikschaffens zu begreifen sind, sondern sich als deren Weiterführung in das Sichtbare und in die vierte Dimension verstehen. Noch zu erwähnen wäre hier auch noch seine Interaktion mit literarischen Texten, so verbindet Cage in dem Stück »Roaratorio« Tonbandaufnahmen mit Geräuschen von Orten die in James Joyces Roman »Finnegans Wake« Erwähnung finden und Aufnahmen irischer Volksmusik sowie Lesungen des Originaltextes von Joyces zu einer beeindruckenden Soundmontage. Bleibt am Ende noch die Frage: »Haben wir es hier mit einer genuin als anarchistisch zu bezeichnenden Musik zu tun?«, verharren doch die bei aller Tendenz zur befreienden Entgrenzung von Cage vorangetriebenen musikalischen Experimenten, seltsam in einem Bereich des Unpolitischen. Die Antwort auf diese Frage kann wohl zum Schluss keiner besser geben als John Cage selbst:
»Wir brauchen eine Musik, in der nicht nur die Töne einfach Töne sind, sondern auch die Menschen einfach Menschen, dass heißt keinen Regeln unterworfen, die einer von ihnen aufgestellt hat, selbst wenn es der Komponist oder Dirigent wäre. Eine Situation stellt sich für unterschiedliche Menschen verschieden dar, weil jeder seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes konzentriert. Bewegungsfreiheit ist die Grundlage dieser neuen Kunst und dieser neuen funktionierenden Gesellschaft mit Menschen, die ohne Anführer und Oberhaupt zusammenleben.«
Bevor wir nun uns, wie bereits oben angekündigt wieder dem Jazz zuwenden und untersuchen ob er in einigen seiner speziellen Spielarten, für uns themenrelevantes bereithält. Hier ein kurzes Resümee der wesentlichen Aspekte der bis jetzt von mir untersuchten Thematik: In den von uns behandelten der Avantgarde zuzurechnenden Beispielen, deren Protagonisten die europäische klassische Musiktradition zu konterkarieren suchten, spielten sowohl die Auflösung einer fest gefügten Melodik und Harmonik als auch die Verwendung neuer vorher noch nie erlebter Aufführungspraktiken eine entscheidende Rolle. Hierbei waren zum einen die gleichrangige Behandlung von musikalischer Struktur und Geräusch auf der einen Seite, sowie die Einbeziehung des Zufälligen und die bewusste Negierung von Erwartungshaltungen des Publikums von entscheidender Bedeutung für die Herausbildung eines neuen von althergebrachten Traditionen befreiten Musikverständnisses, dass sich zu libertärem Denken durchaus komplementär verhält.
Und nun zum Jazz – Wenn heutzutage manch einer den Begriff Jazz und die damit in Verbindung gebrachte aktuelle Spielweise hört, mag bei ihm durchaus der Zweifel am libertären Gehalt dieser Musik aufkommen. In der Tat hat die beispielsweise der in Sendern wie »Jazzradio« unter dem Begriff: »Smooth Jazz« gedudelte Soundtapete, bestehend aus entschärftem und weichgespültem »Cool Jazz« und extrem eingängigem Formen Bossa Nova oder des Funk nicht viel zu tun mit dem was ursprünglich das spezifische dieser Musik war und auch noch ist. Den Protagonisten dieser neuen jazzartigen Bubblegummusik, wie z.B. John Pizzarelli, Jane Monheit oder Diana Krall um nur einige zu nennen, geht bei all ihrer zugegebenen musikalisch-technischen Brillanz, doch das wesentliche jeglicher guter Jazzmusik ab,: nämlich echtes Gefühl und Innovationsvermögen. Diese Musik, zum größte Teil aus der Repitation alter Standards bestehend, die nach Belieben noch Geigenschmalz umrahmt werden, führt letztendlich den Jazz, der sich zunehmend seit der Entstehung des Bebop und der daran sich anschließenden Entwicklung des Modern Jazz bis hin zu den Formen des Free und Fusion Jazz, als eigenständige vornehmlich schwarze Kunstform verstand, dort hin wo hin ihn das weiße Establishment immer schon verortet hat – in die Ghettos von Tanz und Unterhaltungsmusik. Diese sind zwar im Unterschied zu Früher nicht mehr die billigen Kneipen und Bordelle der früheren schwarzen Unterschicht, sondern die schicken Bars und Business – Lunches der vorwiegend weißen Yuppies wo nun der Smooth Jazz; muzakartig den perfekten Soundtrack zu neoliberalen Globalisierung liefert.
Kommen wir nun nach dieser, wie ich finde notwendigen Abrechnung mit dem extrem kommerzialisierten »Smooth Jazz«, zu den für uns und unser Thema relevanteren Formen des Jazz – und somit zum wirklichen Jazz.
Natürlich würde es hier zu weit führen, die gesamte Geschichte des Jazz mit all ihren soziokulturellen Bezügen noch einmal aufzurollen, dies würde alleine schon einen abendfüllenden Vortrag ausmachen. Dennoch will ich hier noch auf einige entscheidende Aspekte des Jazz zu sprechen kommen, die wie ich glaube für unser Thema eine gewisse Relevanz haben.
Die uns heute unter den so geläufigen Begriff Jazz bekannte Musik, ist vor etwas mehr als hundert Jahren in New Orleans – jenem Schmelztiegel am Mississippi Delta im tiefsten Süden der USA von Nachfahren verschiedenster afrikanischer Völker, die man als Sklaven verschleppt hat, aus mehreren unterschiedlichen aber auch verwandten musikalischen Vorformen wie z.B.: Worksong, Blues, Gospel, Cakewalk und Ragtime entwickelt worden. Ihre Wurzeln reichen tief in die jeweiligen polyphonen und rhythmischen Strukturen der afrikanischen Musikkulturen zurück, die hier nun sowohl untereinander als auch mit europäischen Harmonien zusammenflossen.
Die entscheidende Rolle bei dieser Herauskristallisierung spielte die Tradition des in New Orleans Mardi Gras genannten Karnevals mit seinen Marching Bands, die außerhalb der Karnevalssaison auch auf Hochzeiten und Beerdigungen aufspielten. Den Marching Bands verdanken wir unter anderem auch die Verbreitung des später den Jazz so typischen Instrumentariums, bestehend aus dem aus der europäischen Musiktradition stammenden Holz- und Blechbläsern. Ihr Repertuar, das sich aus den oben genannten Musizierformen (Blues, Gospel, Cakewalk und Ragtime) zusammensetzte, unterlegten sie auf Grund ihrer umherziehenden Spielweise mit einem Marschrhythmus, den sie allerdings metrisch so veränderten, dass sie dem für Märsche üblichen Taktschema von 1,2,3,4, einen unbetonten Zwischentakt einlegten, so dass sich hierbei eine Verschleppung des rhythmischen Taktgefüges zu 1 und 2 und 3 – ergab. Diese Verschleppung bildete später die Grundlage für den diese Musik so typischen 4/4 Takt und damit für das was man als Swing bezeichnet.
Der Swing ist bis heute eine der grundlegenden Essenzen aller traditionellen und modernen Jazzspielarten. Es ist durchaus interessant, dass hier bereits bei seiner Geburt der Jazz, ob nun zufällig oder gewollt subversive Züge aufweist, denn es liegt schon eine gewisse Ironie darin gerade die europäische Marschmusik, als Symbol für Herrschaft, imperialer Macht und Unterdrückung bewusst oder unbewusst in der oben genannten Art und Weise zu persiflieren und zu verballhornen. Dieser ironische Grundzug begleitet den Jazz durch seine gesamte Geschichte und tritt immer dann besonders in Erscheinung, wenn sich seine schwarzen Protagonisten mit der musikalischen Kultur der weißen Mehrheitsgesellschaft auseinandersetzen.
Er ist also durchaus emanzipatorisch zu verstehen und hat somit libertäre Züge. Ein weiteres herausragendes Merkmal der Jazzmusik ist die Improvisation, – jener spielerischer, spontaner Umgang mit einem oder mehreren musikalischen Themen, -deren Verknüpfung sowie deren Montage bzw. Demontage durch hinzufügen oder weglassen einzelner oder mehrerer Töne sowie ganzer Melodiefragmente. Diese Kombination von verschleppten 4/4 Takt – Swing später auch in Verbindung mit anderen Taktarten und der Improvisation erzeugen jenes unnachahmliche Jazzfeeling, dass jeden Musiker aber auch Hörer der bereit ist sich auf dieses musikalische Abenteuer einzulassen beschleicht. Es besteht in einer gefühlten, – scheinbaren Aufhebung des Zeitkontinuums, hervorgerufen durch eine Progression der musikalischen Intensität erzeugt durch verdichteten Rhythmus, was beim Hörer die Wahrnehmung einer längeren Zeitdauer hervorruft als sie in Wirklichkeit ist.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch das was der leider zu früh verstorbene Musiktheoretiker und deutsche »Jazzpapst« Joachim – Ernst Berendt im Nachwort seines Buches »Die Story des Jazz – Vom New Orleans zum Rock Jazz von 1975« unter dem Titel: Marginalien zu einer Philosophie des Jazz schreibt:
»Viele Interpretationen des Jazz sind ja scheinen einander auszuschließen – und doch ist jede einzelne für den, der sie er – hört und er – fahren hat, wahr und wirksam. Mehr, soweit ich sehe, als irgendeine andere Kunst gehört der Jazz in eine Welt des «Sowohl – Als auch», des «Nicht nur Sondern auch» und ist damit der Welt des «Entweder – Oder» entgegengesetzt. Die Welt des «Entweder – Oder»: das ist die weiße Welt des 19. Jahrhunderts, deren Residuen immer noch in den Köpfen herumspuken: die Welt der Kausalität und Linearität, in der jede Ursache ihre Folge hatte und notwendig immer nur eine Folge haben konnte, deren Rationalität uns und selbst, die Welt, leer gemacht hat, sie verwandelt hat in eine gigantische Maschine, die läuft und läuft und läuft. Der Jazz entstand und entwickelte sich in dem gleichen Maße, in dem das Denken und die Kunstauffassung des 19. Jahrhunderts brüchig und schließlich wissenschaftlich unhaltbar wurde. Seine Anfänge stehen im alten New Orleans noch der Marschmusik nahe; dem musikalischem Nonplusultra an Kausalität und Linearität. Aber die Anfänge verflüchtigten sich, wurden in ihr Gegenteil verkehrt. Buchstäblich. Sie wurden negiert: anstelle der starken wurden die schwachen Taktteile betont. Es hieß nicht mehr links – Zwo – drei – vier, sondern: eins – und – zwei -und, und die Betonung erhöhte das lediglich addierende, summierende ‹Und› zu seiner ursprünglichen Bedeutung, die eine verbindende ist, dennoch begann ja der Takt auf der Eins. Die Betonung des ‹Und›, des schwachen Gliedes, gab also den Schlag, der in der europäischen Musik eine trennende Bedeutung hat, eine verbindende. Genau das machten die Jazzmusiker von nun an immer wieder: sie verbanden. Rhythmisch, metrisch, melodisch, harmonisch, formal, stilistisch…«
Wie ich finde, hätte man das freiheitliche und zugleich befreiende Element des Jazz, das ihn von jeglicher anderen Musik unterscheidet, trefflicher nicht beschreiben können. Ein ebenfalls noch zu berücksichtigendes Charakteristikum des Jazz, entwickelte sich zu jenem Zeitpunkt, als die großen Marching Bands zu Ballorchestern bzw. kleineren Kapellen wurden, die nun in den unterschiedlichsten Etablissements wie Kneipen, Bordelle oder auf Schuffle-Boardschiffen aufspielten. Die in kurzer Zeit rasch angewachsene Zahl solcher Bands und der damit einhergehende Konkurrentsdruck machten ein unverwechselbares Erkennungsmerkmal erforderlich. So entstand zuerst mit der Phrasierung der Solisten, später auch durch die Tonbildung der Sidemam, das, was ihn von seinen Kollegen unterscheidbar macht, der Personalstil eines Jazzmusikers. Eine ebenfalls noch hervorzuhebende Besonderheit des Jazz stellt die Aufhebung der starren Grenzen von Komponisten und Interpreten, wie es in der europäischen Musiktradition festgeschrieben zu sein schien, dar. Viele der heute bekanntesten Jazz-Kompositionen stammen von ihren Interpreten, und wenn sie von Anderen gespielt werden, ist jeder Jazzmusiker immer danach bestrebt durch Phrasierung und Improvisation eigene und unnachahmliche Interpretation eines Stückes zu liefern. (wie z.B. bei Chet Baker einer der wenigen reinen Interpreten des Jazz)
Als der Jazz dann in relativ kurzer Zeit auch im Norden der USA Verbreitung fand und in Chicago und New York heimisch wurde und er immer mehr zur Differenzierung neigenden Stilistiken ausbildete, (New Orleans Stil, Dixieland, New York-Stomp u.s.w.) fand er auch bei einer sich zunehmend vergrößernden weißen Zuhörerschaft ein begeistertes Publikum. Dies brachte die damals gerade ihren Kinderschuhen entwachsen zu beginnenden Schallplattenindustrie dazu Aufnahmen von dieser Musik zu machen. Im Zuge dieser Kommerzialisierung gelangte der Jazz nach dem ersten Weltkrieg nach Europa. Trotz oder gerade wegen der desolaten Nachkriegszustände fand er dort, zumindest bei einem gewissen Teil der Bevölkerung, der sich durch die überschlagenden Ereignisse zunehmend verunsichert fühlte, begeisterte Aufnahme. Dieser erste weltweite Erfolg des Jazz in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, der dieser Dekade das Etikett Jazz Age aufdrückte, war nichts weiter ein gewaltiger Rekuperationsversuch der weißen Gesellschaft gegenüber einer authentischen schwarz geprägten Kultur, wobei es hier nicht so sehr um ein Verstehen dieser neuen fremden Kultur, sondern vielmehr um den Reiz des erotisch gefärbten exotischen Kitzels dieser Musik ging, was vor allem der phänomenale Erfolg von Josephine Baker bewies. Mit dieser ersten extremen Kommerzialisierung, die mit der Swing-Ära in den USA der 30er Jahre ihren Höhepunkt erreichte, bekam der Jazz auch seine fälschliche Einordnung das Genre Tanz und Unterhaltungsmusik, (was er zur damaligen Zeit allerdings durchaus war) und dieses Diktum verfolgte den Jazz bis die späten 40er Jahre, Theodor W. Adorno dann in seiner berühmten Stahlbad der Kulturindustrie-These auswalzte, um so den Jazz als eine Erscheinungsform der kapitalistischen Unkultur zu brandmarken. Den Jazz selbst konnten weder die Kommerzialisierung durch die Swing-Ära, noch die Verdammungsurteile rechter oder linker Kulturpessimisten erschüttern, er blieb stets dass was er immer war, der unerschütterliche Ausdruck eines Strebens nach Freiheit. Gerade zu jener Zeit als Adornos grausames Verdikt die Runde machte, wagten sich einige junge schwarze Musiker mit sehr viel Enthusiasmus daran dem Jazz einen neuen Ausdruck zu geben.
Mit dem Bebop entstand bis Ende der 40er Jahre, dass was man im Anschluss Modern Jazz nannte und damit brach der Jazz zu dem durch, was er im Grunde schon immer war und noch immer ist: – Die einzige authentische amerikanische Kunst, die in den USA entstanden ist. Diese bei immer mehr Musikern sich zu manifestieren beginnende Überzeugung, ermöglichte es dann dem Jazz aus dem ihm zugedachten Ghetto der reinen Unterhaltungsmusik auszubrechen, und so zu dem zu werden was er heute ist – eine ernstzunehmende musikalische Kunstform.
Die Revolte Bebop, wie sie Charlie (Bird) Parker (as) und Dizzy Gillespie (tr) zusammen mit anderen Musikern wie Wardell Gray (ts), Curley Russell (b), Bud Powell (p), Max Roach (dr), um nur einige ihrer Mitstreiter zu nennen, im Mai 1945 in Minton’s Playhouse anzettelten, ist nur vor dem Hintergrund einer starken Vermehrung des Industrieproletariats infolge des zweiten Weltkrieges und der damit von Grund auf veränderten Mentalität der jungen, schwarzen Musiker besonders in New Yorker zu verstehen. Das hieraus resultierende Bewusstsein äußerte sich in neuen emanzipatorischen Bestrebungen die nun auch den Jazz zurückerobern wollten.
Viele der Protagonisten dieser neuen Spielweise, die ihre »Lehrjahre« in den großen Swing Orchestern von Duke Ellington, Count Basie oder Cab Calloway absolvierten, erkannten dass sich der Jazz in der Vaudeville-Atmosphäre von glitzernden Ballsälen in einer Sackgasse befand. Zwar schrieben Ellington und Basie unzählige Kompositionen, die bis heute zum Standardrepertoir des Jazz gehören, wobei sie auch in ihren Arrangements ungewöhnliche Harmonien benutzten, diese gingen aber nach ihren Verständnis im wesentlichen über das Feld von Tanz und Unterhaltungsmusik nicht hinaus.
Die Bebopper wollten dem Jazz wieder zu dem machen was er vor seiner Kommerzialisierung in der Swing-Ära war, ein Stück genuin – schwarzer Kultur, dies zeigte sich zum einen im Wechsel der Aufführungsorte vom großem Ball-Room zum kleineren Club und zum andern in der Verkleinerung der Besetzung von der Big-Band zur Combo. Diese Veränderungen im Zusammenhang mit einer völlig neuen Spielweise, auf die ich hier gleich noch zu sprechen kommen werde, waren von nun an die Wegmarken für künftige Weiterentwicklung des modern Jazz. Wobei der Stellenwert mancher Clubs (wie z.B. das spätere Village Vanguard als eine der Geburtsstätten des Free Jazz), mit dem von Laboratorien vergleichbar war, in denen man neue Ausprägungen und Stile des Jazz kreierte. Die Besetzungsstärke konnte später variieren und durchaus auch mal wieder zur Big-Band anwachsen. (z.B. bei Dizzy Gillespie, Gil Evans, Charles Mingus oder Miles Davis)
Kommen wir nun zu den wesentlich musikalischen Neuerungen des Bebop: Ich zitiere aus »Geschichte des Jazz« von Lucien Malson erschienen 1967: »Was machte nun das Wesen des Bebop aus? – Schon 1945 bestand die Neuerung dieser Tonsprache in der melodischen Akzentuierung der schwachen Taktteile und der häufigen Zuhilfenahme der Triolen. Den Rhythmikern wird eine große Freiheit eingeräumt, die Begleitsektion aufgelöst. Nur Schlagbass und Becken geben den regelmäßigen Pulsschlag an, Klavier, Gitarre und Trommel verteilen ihre Interpunktionszeichen nach freien Gutdünken. Die Sextakkorde und die übermäßigen, Quintakkorde des »Mainstream« Stiles verschwanden nach und nach. Die kleinen Septimenakkorde gehen immer denen der Dominante voraus. Die Musiker verwenden gern die verminderte Quint, der Wagners Vorliebe galt und die in der europäischen Tonkunst die totale Musik erschütterte. Die einstimmig vorgetragenen Themen werden im Bebop kühn harmonisiert. Eines der Hauptmerkmale der neuen Tonsprache ist der gänzliche Verzicht auf die abgedroschenen Klangeffekte und Melodieführungen der Schlager…« – »Parker und seine Begleiter erfanden 1945, wie vordem Armstrong und die Wegbereiter in Chicago; (1925) ihr eigenes Repertoire. Gleichzeitig bezog der Blues durch ihr Eingreifen wieder jenen Vorzugsplatz in der Jazzmusik, die ihm die großen Meister des Middle Jazz nicht immer einräumen wollten.«
Diese musikalische Revolte, gegen die rhythmischen, melodischen und harmonischen Leitsätze des von ihnen als Vorkriegsklassizismus verspotteten Mainstream-Swing, unterstrichen einige Musiker des Bebop zudem noch äußerlich durch einen betont militant wirkenden Habitus bestehend aus Baskenmütze, Sonnenbrille und Ziegenbart. Hinzu kamen noch die skurril wirkenden, an DADA-Poesie erinnernden Nonsensetitel die sie ihren Stücken gaben, wie etwa Dalvardor Sali – eine Verballhornung des Namens von Salvador Dali, die ihre für die damalige Mehrheit seltsam-befremdlich musikalischen Extremismus ebenso unterstrich, wie Dizzy Gillespies clowneseke mit ironischem Sarkasmus gespickte Ansagen und Gesangseinlagen.
Diese rebellische Attitüde der Boppers beeindruckte Ende der 40er Jahre auch eine damals noch kleine Gruppe von unkonventionellen jungen weißen Dichtern und Schriftstellern, die später unter der Bezeichnung Beats oder Beatpoeten einer ganzen nach Freiheit und Ungebundenheit dürstenden Generation ihren Nahmen geben sollte. Der Bebop, der ihre Musik wurde, verkörperte in ihren Augen all das, was Allan Ginsberg in seinem Gedicht: Howl zum Ausdruck brachte, – nämlich jene Unzufriedenheit mit jenem »sauberen« konsumorientierten, langweiligen American Way of Live, der dem einzelnen kaum eine Wahl für ein freies – selbstbestimmtes Leben lässt, es sei denn er bricht aus dieser Welt der vorgegebenen Konventionen radikal aus.
Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass der Bebop, als er etwas später nach Europa schwappte, auch hier vornehmlich in Paris, von einem Teil der kritischen, intellektuellen Jugend absorbiert wurde. Der Bebop wurde hier gerade zu dem musikalische Aushängeschild des zu jener Zeit grassierenden Existentialismus, – mit seiner wilden – ekstatischen und gleichzeitig anspruchsvollen Jazzmusik lieferte er die perfekten Tanzrhythmen für den »Mensch(en) in der Revolte« und seiner Philosophie des »Seins und des Nichts«.
Bebop lieferte aber jungen aufstrebenden Jazzmusikern ein Forum auf dem sie sich profilieren konnten, viele der die weitere Entwicklung des modern Jazz bedeutsamen Musiker, – wie Thelonious Monk (p), Charles Mingus (b), Max Roach (dr) und Miles Davis (tr) um nur einige zu nennen, verdienten sich in dieser Szene ihre ersten Sporen. Letzterer – also Miles Davis entwickelte dann Ende der 40er Anfang der 50er Jahre mit »Birth of the Cool« eine andere Sound-Stilistik gleichen Namens, den Cool Jazz. Der Cool Jazz war weniger eine neue Spielweise, – denn die durch seinem Namen schon charakterisierte zurückgenommene, elegische unterkühlte Intonation gab es bereits bei den aus der Swing-Ära hervorgegangenen Musikern des Mainstream wie Coleman Hawkins (ts) oder Lester Young (ts), er war vielmehr eine Haltung, – nämlich die im Gegensatz zur ironischen hektischen Bebop Aggressivität, die der zur Schaugetragenen abgebrühten, zynischen Coolness. Diese Haltung fand besonders in den Großstädten der Westküste der USA wie San Francisco und vor allem in Los Angeles zu Beginn der 5Oer Jahre unter den vorwiegend weißen College-Studenten unter den Namen West Coast Jazz schnell eine begeisterte Anhängerschaft. Seine Protagonisten wie: Lennie Tristano (p), Zoot Sims (ts), Stan Getz (ts), Chet Baker (tp), Gerry Mulligan (bs), Lee Konitz (as), Bob Brookmayer (tr), Dave Brubeck(p) und Paul Desmond(as) um nur die bekanntesten zu nennen, bestimmten bis Mitte der 50er Jahre mit ihrem introvertierten elegischen Sound, zwar einige der Neuerungen des Bebop sich aufnahm, sie aber dann mit einer (fast) vibratolosen, dynamisch neutralen Tongebung verband, – den Mainstream des Jazz. Dabei vermied er jegliche Expressivität, wie sie noch ein unverwechselbares Merkmal des Bebop war. Die so entstandene Cool Jazz Stilistik, erhielt so ein verstärktes Easy Listening Gepräge, die ihre kommerzielle Akzeptanz deutlich erhöhte, es entstand so dieser typische Bar-Sound, der wenn man so will bereits schon die als die Urmatrix des oben erwähnten Smooth Jazz angesehen werden kann.
Im Gegensatz zum Bebop, der sich vermehrt der verschütteten Bluestradition im Jazz annahm, wandte sich der Cool- respektive der West Coast Jazz wieder dem Schlager zu, den er zu schnörkellosen, unterkühlten Jazz-Balladen aufblähte. Der West Coast Jazz der als ein Versuch der Aneignung der musikalischen Errungenschaften des modern Jazz durch eine Klientel von Musikern die vornehmlich der weißen Mittelschicht entstammten verstanden werden kann, blieb mit seinem Blick auf den Publikumserfolg bei eben einer solcher Zuhörerschaft, bald in einer Sackgasse der Unterhaltungsindutrie stecken. Ausgehend von der Elegie seines Stils, neigte der Cool Jazz mehr dem konservatorischen des bereits erreichten, bzw. dessen Perfektionierung, als zur avantgardistischen Neuerung. Darüber täuschten weder, die unter der Bezeichnung »Progressiv Jazz« von Woody Herman und Stan Kenton unternommenen Versuche den Jazz mit klassischen Musikstrukturen zu verbinden, noch Dave Brubecks virtuoses Klavierspiel in Verbindung mit ungewöhnlichen Taktarten hinweg. Der Cool Jazz blieb der gutgemachten Oberfläche des Gefälligen ohne wirklichen Tiefgang verhaftet und lieferte so auch kein wesentliches Potential für die weitere Entwicklung des Jazz. Diese affirmativen Neigungen lassen den Cool Jazz für unser Thema mehr als Negativbeispiel in Erscheinung treten, denn neben seinem musikalischem Mittelmaß, lässt er auch sonst keine wirklich befreienden ganz zu schweigen von libertären Tendenzen erkennen.
Eine Ausnahme bildete vielleicht der Mitte der 60er Jahre von Miles Davis entwickelte modale Jazz, der Spielweisen des Cool mit Skalen der Zwölftonmusik in Verbindung brachte und so ein Thema mit nur geringen Variationen in schier endloser Wiederholung repetierte, wie in den Stücken »Sanctuary« und »Circle in a Round«. Diese Spielweise in Verbindung mit den Errungenschaften des Rock bildeten in den späten 60er Jahren die Grundlage, für die Entwicklung des Electric bzw. Fusion Jazz, wie er im Miles Davis Album »Bitches Brew« zu einem Meilenstein der Jazzgeschichte wurde.
Ungeachtet vom weltweiten kommerziellen Erfolgs des Cool Jazz, hielten an der Ostküste der USA, und hier vornehmlich in Harlem – New York etliche schwarze Musiker am Bebop fest. Im Verlauf der 50er Jahre erhielten diese trotzigen Unentwegten beständig Zulauf durch jüngere Musiker, die aus den Schwarzen Ghettos der großen Industriegebiete des Nordostens, wie Detroit, Pittsburgh und Philadelphia kamen. Unter ihrem Einfluss machte der Bebop unmerklich eine Metamorphose zu einem neuartigen oder besser gesagt andersartigen musikalischem Idiom durch. Diese später als Hardbop oder auch Soul Jazz bekannt gewordene Spielweise, äußerte sich vor allem in einer Intensivierung des Rhythmus in der Rhythm Section (Klavier, Bass, Schlagzeug), aber auch in einer neuen Hinwendung bzw. Rückbesinnung auf musikalische Elemente einer genuin afroamerikanischen Kultur wie Worksong, Blues oder Gospel. Dabei wurden die komplexen Harmonien des Bebop durch einfachere Strukturen ersetzt, in dem man die Akkordprogressionen auf das Elementarste beschränkte, und an Worksong oder Gospel erinnernde Call – and – Response – Modelle einführte. Diese im schwarzen Slang als Funk bzw. funky ein neues schwarzes Selbstbewusstsein charakterisierende Haltung, die hier ihren musikalischen Ausdruck fand, war ähnlich wie die zehn Jahre vorher stattgefundene Bebop-Revolte, ein Versuch den Jazz aus der kommerziellen Umklammerung durch die Mehrheitsgesellschaft, wie sie vordem durch die Swing-Ära und nun durch den West Coast Jazz verkörpert wurde, in die ihm angestammten schwarzen Gefilde zurück zu erobern. Dabei spielen die sich verstärkenden Emanzipationsbestrebungen der Afroamerikaner von Mitte der 50er bis in die 60er Jahre eine entscheidende Rolle. Aufgrund der positiven konjunkturellen Entwicklung der Wirtschaft in Folge des 2. Weltkrieges, deren einzig wahrer Gewinner die USA waren, verbesserte sich auch die materielle Lage vieler Schwarzer zusehends, nur leider hielt ihre rechtliche Gleichstellung mit der weißen Mehrheitsgesellschaft damit nicht schritt. Noch immer herrschte in weiten Teilen der USA und ganz besonders stark in den Südstaaten, ein System von rassistischer Unterdrückung und Ausgrenzung vor. Es sei hier nur an jene unsägliche Trennung von schwarz und weiß in sämtlichen Bereichen des öffentlichen Lebens, wie U-Bahnen, Busse, Restaurants, Schulen, Parkbänke, ja selbst bestimmte Jazzlokale zu denken, die Schwarze nur als Musiker über den Bühneneingang betreten durften, man ihnen aber gleichzeitig als Publikum den Zutritt verweigerte. Dies veranlasste immer mehr Afroamerikaner gegen diese unhaltbaren diskriminierenden Zustände zu opponieren und zu revoltieren. Verschärft wurde dieser Emanzipationskampf mit Eintritt der USA in den Koreakrieg, in dem nun auch wie vor dem im 2. Weltkrieg viele Schwarze für die Ideale eines Landes kämpfen sollten, dass für sie nur die billigen deklassierten zweitrangigen Plätze und ansonsten Hohn und Spott übrig hatte. Im Verlauf dieser immer mehr zu eskalieren drohenden Spannungen, bildeten sich unter den Bezeichnungen: National Association for the Advancement of Colored People kurz NAACP und CORE Congress of Radical Equality sowie SCLC Southern Christian Leadership Conference verschiedene Bügerrechtsorganisationen, die den Kampf um rassische Gleichstellung wachsendem Erfolg zu organisieren begannen. Dies taten sie vor allem mit der Strategie des gewaltlosen Widerstandes, in dem sie als Gruppen von schwarzen und weißen jungen Leuten gemeinsam gezielt »Only for White« Einrichtungen wie Restaurants und Cafes aufsuchten, um so die Unsinnigkeit der Segregationsverordnugen, wie sie in den 50er Jahren in weiten Teilen der USA, vor allem im Süden, nach wie vor restriktiv aufrechterhalten wurden, deutlich zu machen und sie somit zu unterlaufen. Derartige Protestkundgebungen konnten auf Grund der Reaktionen der weißen Gesellschaft sehr schnell, auch bei relativ geringen Anlass zu solidarischen Manifestationen anwachsenden, die letztendlich zum Erfolg führten.
So z.B. von Rosa Parks, einer schwarzen Näherin aus Montgomery Alabama, die sich nach einem harten Arbeitstag weigerte ihren Sitzplatz im Bus für einen Weißen freizumachen, woraufhin sie wegen »ungebührlichen« Verhaltens von der Polizei in Haft genommen wurde.
Dies nun endete nicht in einer schnell wieder verrauchten Empörung, sondern wuchs sich zu einer alle Beteiligten überraschenden Welle des Protestes aus, der schließlich zu einem Boykott der Omnibusgesellschaften von Montgomery führte, der von der gesamten schwarzen Bevölkerung, die immerhin die Hälfte der Einwohner dieser Stadt ausmachte, über ein Jahr lang durchgehalten wurde. Um einen nahenden Bankrott zu entgehen, lenkten die Busgesellschaften letztendlich ein und schafften die Rassentrennung in ihren Bussen ab. Von noch wesentlicherer Bedeutung war für die Afroamerikaner die Abschaffung der Rassentrennung in den Schulen und Hochschulen, hier erzielte die NAACP 1954 mit einer Grundsatzentscheidung des Obersten Bundesgerichtshofs in einem von ihr geführten Prozess einen epochemachenden Erfolg, als die Segregation in den Schulen für verfassungswidrig erklärt wurde und somit die Rassendiskriminierung die an den Schulen, trotzdem allenthalben fortbestand, als Gesetzwidrigkeit angreifbar machte. Die Methode des gewaltlosen Widerstands, wie sie sich zum ersten Mal in Montgomery im großen Stil bewährt hatte, wurde nun in verstärktem Maße auch in den eingesetzt, um die Gleichberechtigung der Afroamerikaner allen Gebieten des täglichen Lebens voranzutreiben und so die unsinnige diskriminierende Rassentrennung in Bussen, Schwimmbädern, und aufzuheben.
Die herrschende weiße Mehrheit lies natürlich nichts unversucht den alten Status Quo aufrecht zu erhalten und diese Emanzipationsbestrebungen der Afroamerikaner zu verhindern. So kam es immer wieder zu gewaltsamen Übergriffen des weißen Mobs oder offizieller »Ordnungshüter« auf die Boykott- und Demonstrationskampagnen, welche die schwarzen Einwohner oft in Zusammenarbeit mit weißen Bürgerrechtlern aus dem Norden durchführten. Besonders vehement reagierte diese unheilige Allianz aus Südstaaten-Establishment, KU-KLUX-KLAN Rednecks und Polizei auf die Schulintegration.
Als ein besonders eklatantes Beispiel stehen hier für die Ereignisse in Little Rock im Staat Arkansas. Als hier 1957 neun schwarze Jugendliche sich auf ihr verbrieftes Recht berufend, den Versuch wagten, die Zulassung an einer bis dahin rein-weißen Schule zu beantragen, auf Ablehnung stieß, kam es zu Unruhen. Diese beantwortete der dortige Gouverneur Orval Faubus mit dem Einsatz seiner Nationalgarde, nicht aber etwa um das bestehende Integrationsgesetz durchzusetzen, sondern um es zu verhindern. Die sich darauf hin zuspitzenden dramatischen Ereignisse, veranlassten nun die um ihre internationale Reputation besorgte Eisenhower-Regierung, die ansonsten keinerlei Sympathie die Emanzipationsbestrebungen der Afroamerikaner übrig hatte, zur Entsendung von Bundestruppen nach Little Rock um die schwarzen Schüler und die Bürgerrechtler vor dem Terror eines weißen Mobs zu schützen. Aufgrund dieser ans Absurde grenzenden Situation, sah sich Gouverneure Faubus, der lieber sämtliche Schulen für immer geschlossen hätte als sie der Integration zu öffnen, gezwungen einzulenken. Somit hatte letztendlich die Bürgerrechtsbewegung wieder einen grandiosen Sieg für die Gleichstellung der Afroamerikaner errungen. Viele Musiker des Hardbop und solche die diesem Jazzstil nahe standen wie Art Blakey (dr), Horace Silver (P), Sonny Rollins (ts), Nat (tr) und Canonball Adderley (as) oder Charles Mingus (b), welche die bittere Realität rassistischen Diskriminierung selbst am eigenen Leib erfahren haben, unterstützten den Emanzipationskampf ihrer Soul Brothers durch ihre Haltung und ihre Musik. So z.B. Charles Mingus der mit dem Stück »Fables of Faubus« in dem er mit einer gewissen Ironie die Ereignisse von Little Rock kommentierte und so gleichzeitig dem ignoranten rassistischen Gouverneur Faubus ein musikalisches Denkmal aus bitterem Sarkasmus setzte. Oder Nat Adderley der mit seinem Worksong an die bitteren Zeiten erinnerte, als man in den ländlichen Gebieten des amerikanischen Südens arbeitslos gewordene umherziehende Schwarze zu ihrem eigenen »Wohl«, um sie so vor vermeintlichem kriminellen Tun zu bewahren, vorsorglich in Arbeitslager sperrte. Dies sind nur zwei von einer ganzen Reihe von Beispielen dafür wie sehr der Hardbop Jazz auf die damaligen Ereignisse des Emanzipationskampfes der Schwarzen bezug nahm und sie damit spiegelte und reflektierte. Der Hardbop lieferte sozusagen den zornigen Soundtrack für die nun angebrochene Zeit des Kampfes um totale Gleichberechtigung.
Nun werden sich sicher Viele, die geduldig meinen Ausführungen über den Hardbop in seinem Kontext zum Kampf um Gleichstellung der Afroamerikaner in der US-Gesellschaft gelauscht haben, fragen: »Wo ist hier eigentlich das wirklich libertäre Element?« Nun denen kann ich nur antworten, die Musik des Hardbop ist zwar genauso wenig libertär wie die gesamte Bürgerrechtsbewegung, dennoch enthält sie ein großes emanzipatorisches Potential. Mit seiner Rückbesinnung auf die verschütteten Wurzeln einer genuin afroamerikanischen Kultur, entdeckte der Hardbop dem Jazz neue Impulse und lieferte somit der schwarzen Gesellschaft ein selbstbewusstes, -positives Identifikationsbild, dass ihr im Kampf um ihre
Gleichberechtigung beständig Mut, Kraft und Hoffnung gab. Im Gegensatz zum Bebop der sich mehr als eine intellektuell-kulturelle Revolte verstand, war die des Hardbop, mit ihrer solidarischen Verbundenheit zum emanzipatorischen Befreiungskampf der Afroamerikaner schon eher politisch motiviert. Die in den USA sich zu Beginn der 60er Jahre sich beständig verschärfenden Auseinandersetzungen, der ihre Gleichberechtigung kämpfenden Schwarzen, schlugen aufgrund massiver Polizeieinsätze immer mehr in offene Gewalt um. Im Zuge dieser Ereignisse von Gewalt und Gegengewalt kam es im Verlauf der 60er Jahre häufig zu regelrechten Ghetto-Aufständen. Mit dieser zunehmenden Eskalation entwickelte ein immer größer werdender Teil der Afroamerikaner eine Hinwendung zu einer entschiedenen Militanz. Dies äußerte sich sowohl im Erstarken alter aber auch durch die Gründung neuer radikaler Organisationen, wie der Black Nation of Islam mit ihrem Anführer Elijah Muhammad und dem wortgewaltigen Propagandisten Malcom X und der eher säkularen Black Power Bewegung mit ihrem radikal-aktivistischem Flügel der Black Panther Party. Die Aktivisten dieser sich als Befreiungsbewegungen verstehenden Organisationen, sahen die in den 50er Jahren durch das Konzept des gewaltlosen Widerstands gekennzeichneten Proteste der Bürgerrechtsbewegung durch die Ermordung von Malcom X und Martin Luther King als gescheitert an. Vor allem die Black Panther-Party verstand sich von nun an als Guerilliakampforganisation, die mit allen ihnen zu Verfügung stehenden Mitteln (auch und vor allem mit Gewalt) den Kampf für die Befreiung der Schwarzen von der Herrschaft der weißen US-Gesellschaft vorantreiben wollte. Ihr erklärtes Ziel war nun auch nicht mehr die rechtliche Gleichstellung und Integration der Afroamerikaner in die von Weißen dominierte US-Gesellschaft, sondern die Gründung einer eigenständigen schwarzen Nation auf dem Gebiet der USA. Warum sind nun diese von den eher maoistisch gesinnten Black Panther-Aktivisten vorangetriebenen, – zugegeben ziemlich anti-libertären Bestrebungen für unser Thema so wichtig? – Nun weil nur so, im Kontext dieses gesellschaftspolitischen Hintergrunds, die Radikalität der weiteren Entwicklung des Jazz, die als eine Art kopernikanischer Wende im Bezug von allem was vorher im Jazz stattfand, verstanden werden kann. Als der Free Jazz oder New Thing wie er zuerst genannt wurde, zu Beginn der 60er Jahre erschien, vollzog sich im Jazz so zu sagen eine parallel zu den oben erwähnten Ereignissen ein eigener Befreiungsversuch. Dennoch wäre es sicherlich falsch New Thing bzw. Free Jazz als eine musikalische 1:1 Entsprechung zu den sich vehement radikalisierenden Tendenzen des schwarzen Befreiungskampfes zu sehen, bildeten diese doch mit den Black Panthers autoritäre Strukturen aus, die alles andere als »Free« waren. Die verschiedenen jüngeren Musiker, wie z.B.: Ornette Coleman (as), Cecil Eric Dolphy (bcl), sowie John Coltrane (ts, ss, fl), McCoy Tyner (p), Pharoah Sandes (ts), Albert Ayler (ts), Archie Shepp (ts) und Don Cherry (tr, tb), aber auch Lester Bowie und das Art Ensemble of Chicago (um nur die wichtigsten der frühen Protagonisten dieses neuen Sounds nennen) kamen überwiegend vom traditionellen Blues. Bevor sie sich nun anschickten den Jazz zu befreien, verdienten sie sich ihre Sporen vorerst als Hardbop Jazzer, deren eingefahrener Gleise sie bald überdrüssig wurden. Sensibel für die seismischen Erschütterungen gesellschaftlicher Veränderungen, versuchten unsere jungen ambitionierten Musiker, einen dafür adäquaten Musikstil zu finden. In Folge dessen experimentierten sie spielerisch mit immer neueren Improvisationsvarianten des Jazz herum bis sie letztendlich zu dem kamen, was Ornette Coleman auf der mit seinem doppel Quartett eingespielten LP: »Free Jazz« nannte – somit hatte das Kind seinen Namen. Musikalisch gesehen war dieser neue Jazz ein grundsätzliches Abwenden von den bis dahin für alle Spielarten, insbesondere den des modernen Jazz gültigen formalen Aufbauprinzipien eines Stückes, wie Chorus anschließend folgender improvisatorischer Deklination des im Chorus vorgestellten Themas mit Variationen durch nacheinander gespielte Soli, alle in der Band vertretenen Instrumente, um am Schluss wieder im Chorus zu enden. Stattdessen setzt der Free Jazz auf das Primat der totalen Improvisation und verwendet dabei jegliche Art von Tonmaterial ohne Rücksicht auf herkömmliche Stilkriterien. Dabei finden neben den Tönen auch häufig Geräusche Verwendung, die daraus resultierende scheinbar unendliche Teilbarkeit der Oktaven, ermöglichen den Tönen und Geräuschen ein sich unbegrenztes Abwechseln in ihrer Abfolge. Es wäre nun aber zu kurz gegriffen, mit dieser Beschreibung typischer musikalischer Charakteristika, dass wesentliche Unterscheidungsmerkmal des Free Jazz zu den vorangegangenen Stilen des modern Jazz ausreichend beschrieben zu haben. Um all die Neuerungen und Wandlungen, die mit dem Aufkommen des Free Jazz einhergingen, in ihrer Gänze hier zu behandeln würde die Zeit des ohnehin schon zu lang geratenen Vortrags nicht ausreichen. Deshalb greife ich hier auf eine kurze thesenartige Zusammenfassung von Ekkehard Jost aus dem Buch »That’s Jazz – Der Sound des 20. Jahrhunderts« zurück, der hier unter der Überschrift Free Jazz bedeutet, folgendes schreibt:
- das Infragestellen jeder Art von Regeln (was nicht mit deren totaler Abschaffung identisch ist)
- die wachsende Bedeutung des Aufeinanderhörens und reagierens in der Gruppe, damit – die – zumindest teilweise – Aufhebung der Rollenverteilung in ›Begleiter‹ und ›Begleitende‹ sowie eine zunehmende Tendenz zur Kollektivimprovisation anstelle von Solos
- die Verselbstständigung der Klangfarbe als Mittel improvisatorischer Gestaltung, und damit die Möglichkeit, a-melodisch zu spielen
- die Betonung von Energie und Intensität als kommunikative Elemente und Auslöser kollektiver Ekstase,
- die Hinwendung zu den Musikkulturen der (sog.) Dritten Welt und damit die Einschmelzung zahlreicher außereuropäischer und amerikanischer Stilelemente in den Jazz-Kontext,
- ein wachsendes Bewusstsein der Musiker für gesellschaftliche, d. h. und ökonomische Probleme und damit ein Wandel in ihrem Selbstverständnis.
Wie diese kurze, keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebende deutlich Aufzählung deutlich macht, eroberte der Free Jazz mit seinem musikalischen Avantgardismus, nebenher zunehmend ein Terrain gesellschaftspolitische Sensibilität, dass weit über alles hinausging, was der ohne hin den Prinzipien der Freiheit verpflichtete modern Jazz zuvor erreichte. Das Wort Free bedeutete somit nicht nur, eine Befreiung von eingefahrenen Spielschematas, wie etwa die als ungeschriebenes Gesetz gültige Verwendung bestimmter Taktarten, wie Viertelnoten – und Achtelnoten – Beat zum Aufbau eines rhythmischen Gefüges, sondern es bedeutete auch, wie es bereits Art Blakey mit seinen Jazz Messengers im Titel ihres Stückes aus der Hardbop Ära postulierte: »Free for all«. Dieser nach allen Seiten hin freiheitliche Ansatz, der sich im Laufe der Entwicklung des Free Jazz immer herauskristallisierte, nahm nach anfänglicher Konfusion einer Kaputtspiel Phase, (wie sie besonders in Europa unter der Bezeichnung Total Music vielleicht noch in Erinnerung ist) nun sämtliche (auch jazzfremde) musikalische Einflüsse, stammten sie nun aus dem weltweiten Repertuar ethnischer Klänge oder dem von klassischer bzw. zeitgenössischer »E-«- oder der Rockmusik, unter stetiger Beibehaltung des Primats der totalen Improvisation in sich auf. Die hieraus resultierende Freiheit des musikalischen Ausdrucks, die bis heute in der kreativen Entwicklung des Jazz respektive der improvisierten Musik, eine zentrale Rolle als Antriebskraft spielt, kann durchaus als libertär aufgefasst werden. Diese neue interessante und aufregende Jazzspielweise, die zu den bereits oben erwähnten Protagonisten beständig Zulauf durch junge interessierte Musiker erhielt, wurde so auch weltweit zu einem beachtenswerten musikalischem Phänomen. So blieb es nicht aus, dass sich auch Veteranen wie z.B. Max Roach oder Charles Mingus, die bereits seit den Tagen des Bebop entscheidend an der Entwicklung des modern Jazz mitgewirkt haben und in dieser Musik auch immer einen Ausdruck des politischen Widerstands gegen die Zumutungen der weißen Gesellschaft sahen, dass Potential des Free Jazz für sich entdeckten und es für ihre Musik zu nutzen begannen.
So hat Max Roach, in der zusammen mit der Sängerin Abbey Lincoln und dem alten Swing-Saxophonisten Coleman Hawkins aufgenommenen Freedom now Suite, fast sämtliche Strömungen des Jazz einschließlich des Free zu einer Art Oratorium zusammengefügt, in der er die gesamte Geschichte der Schwarzen in den USA von dem Beginn der Sklaverei mit der Rückbesinnung auf die ursprünglichen afrikanischen Wurzeln, bis zu den Befreiungskämpfen der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts schildernd, der Entwicklung des Jazz zu einer eigenen musikalischen Kunstform, einen Meilenstein gesetzt. Charles Mingus der neben John Coltrane zu den innovativsten Musikern des modern Jazz zu zählen ist, wurde wie jener mit seinem entschiedenem Streben nach avantgardistischen Neuerungen, bei gleichzeitiger Verwurzelung in den Traditionen des Blues zu einer der wichtigsten Integrationsfiguren zwischen modern und Free Jazz. Neben seiner ständigen Zusammenarbeit mit Musikern aus der Free Jazz Szene wie z.B. Eric Dolphy, engagierte sich Mingus 1960 zusammen mit Max Roach für die Schaffung eines alternativen Newport Festivals, um somit der repetitiven Vermarktung des Jazz ein Forum für neue innovative Spielarten wie dem Free Jazz entgegenzusetzen. In diesem Zusammenhang sollte auch die mit dem Free Jazz einsetzende Selbstorganisation von alternativen Aufführungs- und Vertriebsstrukturen wie der Jazz Artists Guild (JAG) und die von dem Trompeter Bill Dixon initiierte Jazz Composers Guild (JCG) sowie die 1964 in New York als Black Arts Group (BAG) und die 1965 in Chicago gegründeten unter der Bezeichnung: Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) als die maßgeblich für die Herausbildung des Free Jazz als eine Gegenkultur in den USA verantwortlich Kooperativen, nicht unerwähnt bleiben. Zum Abschluss dieses Kapitels zum Thema Free Jazz noch zwei Beispiele, die deutlich machen, wie sehr der grenzüberschreitende Charakter dieser Musik, zum einen im Bereich der Kunst, und zum anderen den des politischen Bewusstseins eine durchaus libertären Grundzug in sich hatte und noch hat. Da wäre zum einen die von Carla Bley unter der Bezeichnung: »A Chronotransduction« 1971 veröffentlichte Jazzoper mit dem Titel »Escalator over the Hill«, in der sie gemeinsam mit ihrem Orchester, sowie etlichen Gastmusikern des Jazz als auch des progressiven Rock, wie z.B. Jack Bruce, über vier LP-Seiten, Gedichte von Paul Haines vertonte, zu erwähnen. Die auf diesem Doppel-Album präsentierte, aus einem vierjährigen Mammutprojekt von 1968-1971 gestellte Musik, stellt gerade zu ein Musterbeispiel, für die Absorptionsfähigkeit musikalischer Einflüsse durch den Free Jazz dar, – die hier integrierten Anklänge, die von intonierten Weil- und Eisler Klängen bis hin zu harten Gitarrenriffs der Rockmusik reichen, sind hierfür ein beredtes Zeugnis. Dieses Album Carla Bleys kann somit als Meilenstein in der Geschichte des Free Jazz in Bezug auf seinen musikalische Integrationsfähigkeit angesehen werden. Die Wichtigkeit der vom Free Jazz ausgehenden Neuerungen war somit nicht nur, für die weitere Entwicklung des Jazz, wie sich in den Bestrebungen von Miles Davis mit seiner Hinwendung zu Electric Jazz, Rock Jazz oder Fusion, zeigte (Bitches Brew, On the Corner u.s.w.) von Bedeutung, sondern sendete auch Impulse in die Richtung der sich zu parallel dieser Zeit entwickelnden »progressiven« Rockmusik aus, und veranlasste so Bands wie King Crimson oder Soft Machine dazu sich ebenfalls in Free Jazzartigen musikalischen Idiomen zu versuchen. Als ein weiteres Projekt, an dem Carla Bley als Arrangeurin und Dirigentin mitwirkte, war das Album: Dream Keeper das vom Bassisten Charlie Haden gemeinsam mit dem Liberation zu den wenigen in den USA überregional bekannten weißen Free Jazz-Musikern zählt, bezog sich bei dieser Einspielung auf politische Entwicklungen und nahm unter anderem dabei mit seiner »Hymn of the anarchist Women’s Movement« – (einem Lied aus dem spanischen Bürgerkrieg), unzweideutig für eine befreiende gesellschaftliche Veränderung Stellung. Diese hier abschließend erwähnten zwei Beispiele, machen deutlich welche über sich selbst hinauswachsende Bedeutung dem Free Jazz im Verlauf seines Bestehens sowohl auf der musikalisch künstlerischen als auch auf der politischen Ebene, als integrativem Bindeglied zukam. Der damit einhergehende Wandel von der musikalisch extremen Ausdrucksweise, einer rein schwarzen militanten Befreiungsbewegung, hin zu einem entgrenzenden und auf die Befreiung aller von Ausbeutung und Unterdrückung Betroffener gerichteten musikalischen Ausdrucks, kann in diesem Falle durchaus als ein Wandel, zu libertären Anschauungen verstanden werden.
Somit wäre auch der von Ornette Coleman geprägte Ausspruch: »Lasst uns die Musik spielen nicht ihren Hintergrund«, als ein Bekenntnis zu einer das Leben nicht nur abbildenden, sondern mit ihm vollkommen identischen Musik zu verstehen, die sich nun von der Ihr
zugedachten Rolle als kulissenartige Soundtapete ein alle mal zu befreien versucht.
Damit will ich nun meinen Vortrag beenden und hoffe obwohl fernab von den bei diesem Thema erwarteten Klischees von Ton, -Steine, -Scherben bis Punk, trotzdem interessante Aspekte zur Wechselbeziehung von und Anarchie bzw. libertären Denken, (wenn auch im Jazz unabhängig von derartigen Etikettierungen) aufgeblättert zu haben.