Gerhard Bauer: Zum Thema Glück

Glück – Unterpfand der Anarchie?

Zuckererbsen“, so stellt sich Heine1 einen Zustand unbestreitbaren Glücks vor: als schieren Genuss, von süßem Geschmack, von der gütigen Natur immer von Neuem hervorgebracht, und ganz umsonst. Die Zuckererbsen sollen aber nicht still in sich hineingelöffelt werden, sie sind „für jedermann“.2 Im Abgeben an andere liegt der eigentliche Clou dieser Vorstellung. Das war im Vormärz eine machtvolle Vorstellung, selbst der zarte Hölderlin, eine Generation früher, hatte das schon so gesehen3 und hatte hinzugefügt, dass auch die „Fremden“ einbezogen werden sollen – vielleicht die Migranten von damals: „Ausgeteilet erfreut solch Gut und getauschet, mit Fremden, / wird’s ein Jubel“. „Teilen“ oder „Aus-teilen“ ist die entscheidende Einstellung, wenn jemand „das Göttliche“, den richtigen Umgang mit den präsenten, aber nur im Himmel präsenten Göttern erlangen will. Das Glück ist jedoch, bei Hölderlin, immer gefährdet, siehe seine „Hälfte des Lebens“ oder siehe „Hyperions Schicksalslied“. Büchner hat in seinem Hessischen Landboten wie in seinem Woyzeck die harten Bedingungen der sozialen Wirklichkeit von damals und in der psychischen Kondition eines geschundenen und darüber ausrastenden Soldaten nachgetragen. Die „Zuckererbsen für jedermann“ scheinen nicht so leicht zu erlangen, durch bloßes Wünschen jedenfalls nicht. So will ich jetzt, als geübter Philologe, die Suche nach Glück, das Überraschtwerden vom Glück durch die Literatur hindurchverfolgen. Freilich nur durch die deutsche Literatur (ich war nun mal Germanist), während eigentlich das Nachdenken über die Bedingungen des Glücks in den meisten Sprachen und Literaturen schon seit der Antike betrieben wurde. Auf Epikur beriefen sich die Hedonisten der Antike. Vom Humanismus an wurde das erstrebte Glück in strikte Relation zum Verdienst gerückt. Bei den großen französischen Aphoristikern (hier: Vauvenargue) werden wir ermahnt, das „ganze Glück“ nur in uns selbst zu finden: Draußen, „in der Welt“, herrschen nur Vorurteil, Eitelkeit und Kalkül.

Im 19. Jahrhundert gründeten die Anhänger dieser Zielvorstellung, weil sich das Glück nicht so leicht, jedenfalls nicht von selbst einstellen wollte, diverse Vereine (aus denen später wieder Parteien wurden). Cabet suchte sein „Ikarien“ in Übersee zu verwirklichen. Er brachte ein paar hundert Franzosen dazu, im Mormonengebiet in den USA einen Fleck des Miteinander und des Ausgleichs zu suchen. Die Leute wollten das Glück hier und jetzt, nicht im Konjunktiv und nicht im Futur. Sie konnten das erstrebte Glück nur nicht auf Dauer finden, weil sie, die es suchten, zugleich diejenigen waren, die jedem Zustand misstrauten, der sich als „glückhaft“ ausbreiten wollte. Und weil sie die meiste Zeit den herrischen Cabet als den Ordensgründer und Theoretiker dabei hatten: Was er durchsetzte, geriet eher zur Diktatur als zur Befreiung für „jedermann“. Proudhon suchte das Ideal einer glücklichen Gesellschaft nicht in fernen Kolonien, sondern vor Ort. Er wollte aus der Idee der Gerechtigkeit ein „System“ machen und sich auf einfache Gegenseitigkeit verlassen. An die Stelle der Staatsorgane mit ihren Gewaltmitteln sollte eine einfache „Regierung der Vernunft“ treten. „Das ist doch Anarchie“, sagten die Gegner sofort, und das konnte und wollte er keineswegs leugnen. Marx sah eine elende Philosophie und eine „Philosophie des Elends“ in Proudhons Zielsetzungen; mit ihnen ging er schärfer ins Gericht als mit der Ordnung des Kapitalismus, die zu seiner Zeit wie auch heute noch (heute mit zaghaften Ausnahmen) überall dominierte. Bakunin und später Kropotkin suchten das Glück in der „wechselseitigen Hilfe“. Damit sollte nicht nur etwas erleichtert werden, was manche Leidensgefährten kaum oder gar nicht tragen konnten. Sondern das Helfen selbst wurde eine Einstellung, vielleicht die wichtigste Einstellung, durch die die Helfer selber glücklich werden sollten. Jedenfalls hätten sie es werden können, wenn man Bakunin und Kropotkin hätte gewähren lassen. Nach Landauer muss sich die Menschheit nur, aber in jedem Staat von Neuem und auf eigene Kosten, von „dem Staatsgötzen, dem Kirchengötzen, dem Kapitalgötzen“ befreien, dann erlangt sie ein bis dahin unvorstellbares Glück. Ein neuerer Theoretiker, Martin Seel, macht im Glück eine „anarchische Seite“ aus, allerdings strikt individuell. Von den vier „Dimensionen“ von Inhalten eines „guten Lebens“ ist wenigstens eine, die Interaktivität, auch an andere Partner adressiert, aber nur vereinzelt (Seel nennt sie denn auch, mit Habermas, „dialogische Interaktivität“). Der Horizont der politischen und sozialen Dimension allerdings entgeht ihm weitgehend, und die Dimension der Veränderung, also auch die Lust an der Veränderung nimmt er nicht in den Blick. Merkwürdigerweise wird die Erzpazifistin Bertha von Suttner mit unter die Utopisten, die Glücksbringer der Menschheit gezählt, wenn auch nicht gerade unter die Anarchisten. Wenn wir aber bedenken, wie viel Elend der Menschheit in allen Ländern erspart bliebe, wenn ihre Staaten keine Kriege mehr führen würden, dann können wir ohne Bedenken in ihre Parole (den ‚Kampfruf’ dieser Friedensfreundin) einstimmen: „Die Waffen nieder!“ In dem bitterarmen, aber höchst befriedigend regierten Himalayastaat Bhutan wurde die Erreichung des Glücks sogar in die Verfassung geschrieben4 – und zwar anders als in der einstmals revolutionären amerikanischen Verfassung, deren Verheißung bald von den Geldprotzen und ihren Geschäften eingesackt wurde. Besonders in den zahlreichen buddhistischen Klöstern Bhutans soll eine „Gelassenheit“, ein „Strahlen von innen“ herrschen, wie sie westliche Staaten mit einem vielfach höheren Lebensstandart nie erreichen.

Allgemein, mindestens in den Ländern, in denen der Kapitalismus voll ausgebaut ist, können sich die Menschen Glück nur mit Freizeit verbunden vorstellen. Aus diesem Befund hat Bertrand Russell seinen Vorschlag entwickelt: Alle arbeiten nur noch die Hälfte. Die Arbeit selbst nimmt dadurch einen Hauch von Genuss an: Man arbeitet schon im Bewusstsein, die anschließende Muße zu genießen. „Lob des Müßiggangs“ sagt nicht zu wenig für eine solche Umkehrung des Arbeits„ethos“, aber Russell entwickelte seinen Vorschlag ganz aus den Bedingungen der Arbeitsgesellschaft und der kapitalistischen Wirtschaft.

Die Tippelbrüder z. Z. der vorigen Jahrhundertwende und wieder in den Elendsjahren der Weltwirtschaftskrise gehören auch in die Weiterentwicklung dieser Bemühungen. Aber nur kurz, denn „auf der Straße liegen“ war ein Elend und kein bisschen Glück. Aus der Selbständigkeit, der Bewegung, der vielen freien Luft suchten sich manche dieser „Könige der Landstraße“ eine persönliche Befriedigung, ja eine Überlegenheit über die sie umgebende Spießbürgerlichkeit zu zimmern, reell glücklich wurden sie dadurch aber nicht. ‚Die Landstraße’ erzieht nicht gerade zu befriedigenden Sozialbeziehungen, eher im Gegenteil. Auch die Stimme dieser Nichtsesshaften, wenn sie Verse auf ihre Situation gemacht haben, dreht sich mehr um das liebe Ich als um den Umgang so eines Freiluftpoeten mit seinesgleichen. Nehmen wir etwa Peter Hille als ein markantes Beispiel: „Ich bin, also ist Schönheit“, das ließ er sich als Titel auf eine Sammlung seiner Verse setzen. Else Lasker-Schüler hat viel von Hille gehalten. Trotz der Spuren seiner Lebensweise im Gesicht wie an den Kleidern fand sie ihn „schön“. Als sie ein Gedicht auf einen Stier namens „Jakob“ machte (unsicher, ob es auf Hille gemünzt war), fand sie zu dem frappierenden Clou: „Und sein Ochsgesicht erschuf das Lächeln“.5 Mühsam hat sich nicht selbst der mühseligen Situation auf den Landstraßen ausgesetzt, er hatte aber ein entschiedenes Faible für die, die aus den Salons der guten Gesellschaft verstoßen waren. Stärker noch als in seinem späteren, berühmteren Lied vom „Anarchisterich“ mit seinem „Attentatterich“ lässt er in seinem „Lumpenlied“ die Pole seiner ausdifferenzierten Gesellschaft aufeinanderstoßen. „Wir sind ein schäbiges Lumpenpack, auf das der Bürger speit“. „Wir“ schreibt er: In dieser sozialen Grundfrage stellt er sich völlig auf die Seite der Verachteten und nicht wenig Gefürchteten.6 „Wir“ haben nichts von den Segnungen, mit denen die Bürger angeben können – „Wir haben Schnaps im Bauch“. Und gleich folgt die Litanei der Wohlanständigen gegen die ihrer Meinung nach zu Recht Ausgestoßenen: „Wer Schnaps im Bauch hat, ist bezecht, / und wer bezecht ist, der erfrecht / zu Dingen sich, die jener schlecht / und niedrig findet auch“.7 In der letzten Strophe malt sich Mühsam aus, mit welcher grimmigen Lust er selber zu den „Reichen“ überlaufen würde, aber noch sind die Schlechtweggekommenen seine „Holzkumpane“; er kennt sie alle mit Vornamen.

Von Mühsam ist es nicht weit bis zu Oskar Maria Graf (Graf hat Mühsam gut gekannt und ein wenig verehrt, aber auch gescheut). Graf hatte in seinem bewegten Lebenslauf mehrere Phasen, in denen er sich ausgesprochen „glücklich“ gefühlt hat: Für eine Arbeiterbühne in der Senefelder Straße sprach er alle Abende die Einführungen in die Stücke – ein regelrechter Conferencier, glücklich vor allem, wenn er „in Fahrt kam“. In seinem Bericht darüber, Wunderbare Menschen, dem unbeschwertesten seiner Bücher, findet er noch besser als was er sich ausdenken konnte, den schlichten Satz seines Freundes, eines Packträgers vom Hauptbahnhof: „Man muss oft Geduld haben mit der Kunst! Aber wenn man’s begriffen hat, ist’s was Schönes!“ Bei immer wieder angesetzten Festen wurde er (Graf) zur „Stimmungskanone“, ließ sich als „Genosse Bewegung“ titulieren. Zur Inflationszeit veranstaltete er im Fasching oder auch sonst Atelierfeste in seiner geräumigen Bude, da genoss er anscheinend diese Ereignisse, aber immer auch deren Anrüchigkeit. Mindestens in seiner Vorstellung machte er etwas wie ein privates Bordell daraus8 – er hatte insgesamt ein sehr freies Verhältnis zur „Fleischeslust“.9 „Ein einziges Volksfest“ sei er gewesen, bescheinigte ihm Ludwig Marcuse.10 Die Volksfeste aber, gerade in München, genauer in Schwabing, gingen gar nicht ab ohne eine gehörige Portion Erotik. In der angespannten Situation des Exils fand er selten einen Moment der Glücks, aber die glücklichsten Jahre (wenigstens in der Rückschau) genoss er in Brünn (da konnte er vier Jahre bleiben, bis er weitermigrieren musste). Im Umgang mit einem Fabrikantenehepaar in Brünn findet er „das bezaubernde Glück dieser undefinierbaren Verbundenheit“ und hält an dieser Freundschaft bis an sein Lebensende fest (als die Fischers längst in London saßen). Anders als die sozialistischen und anarchistischen Theoretiker denkt er nicht an allgemeine Größen wie die Menschheit – eine reguläre Utopie aus seiner Feder misslingt ihm gründlich.11 Er denkt an andere seinesgleichen, Bekannte und Freunde. Und er respektiert, ja fördert deren Eigenart. Wenn Mao ze Dong etwas später für eine hoffnungsvolle Phase der chinesischen Revolution dekretiert hat: „Lasst 100 Blumen blühn“, so müsste es bei Graf heißen, eine große Stufe drastischer: Lasst 100 Misthaufen duften!

Die anderen Exilierten trafen es weniger glücklich in den Verhältnissen ihres Exils.12 Nehmen wir nur Brecht: Er war von vornherein abgehärtet gegen die Unzuverlässigkeit des Glücks, ja er machte aus ihr die eigentliche Würze des Zustands, der herkömmlicherweise „Glück“ heißt. In seiner Dreigroschenoper hatte er gewissermaßen höhnisch konstatiert: „Ja renn nur nach dem Glück (…) Das Glück rennt hinterher“.13 Glückliche Liebe ähnelt einer besonders hervorgehobenen Wolke am Himmel: Das Ich kann zusehen, wie sie vergeht, und es genießt eben diese Vergänglichkeit. In seiner Oper Mahagonny lässt Brecht die „Männer von Mahagonny“ nur einmal „nein“ sagen: In die Hölle lassen sie sich nicht abführen, nicht mal an den Haaren– „weil wir immer in der Hölle waren“.14 In dieses raue und freche Stück aber, in die so beschaffene „Hölle“ also, hatte Brecht sein zartestes Lied versetzt: das von den beiden Kranichen, die nichts wollen als beieinander „bleiben“, und die sicher „bald“, mit jedem Flügelschlag kommt der Zeitpunkt näher, voneinander getrennt werden. „So scheint die Liebe Liebenden ein Halt“. Nach Brechts Vorstellung vor dem Exil, im Exil und nach seiner Rückkehr aus dem Exil sollte die Zeit des Glücks für die Menschheit einmal anbrechen, aber noch war es nicht so weit, vielleicht noch nicht ganz so weit.

Nach ’45, zumal nach der Gründung zweier Deutschländer, die, jedenfalls in ihren Regierungen, einander spinnefeind waren, herrschten in der Republik Ost natürlich höchst unterschiedliche Vorstellungen von denen der Republik West. Laut Becher sollte das Land nun endlich glücklich werden (womöglich es schon sein?), und zwar nicht nur als Ertrag der Anstrengungen seiner Bürger, sondern in den und durch die Anstrengungen selbst. Das versprochene Glück nach der großen Enteignung, nach der ‚Bodenreform’ und erst recht nach der unnachgiebigen Abschottung vom Westen wollte sich so nicht einstellen, und dass die Staatsführung vom „Glück“ durch derlei Maßnahmen redete, immer wieder nur redete, das nahmen ihr die von diesen Maßnahmen betroffenen Bürger einfach nicht ab. Glücklich hätten die sein können, die wenigen, die die Lager und KZs überlebt hatten, aber es war paradox, fast pervers: Sie sprachen kaum je von dem Glück, dass sie überlebt hatten, sie hoben nur einzelne glückliche Momente hervor, die sie sogar dort erlebt hatten. Imre Kertesz gibt in seinem Roman eines Schicksalslosen einen triftigen Grund dafür an: Die Erfahrung einzelner Glückmomente wirkte in den horrenden Lagern so ausgefallen, so unglaubwürdig, dass sie sich tiefer eingeprägt hat als die „Übel“ oder „Greuel“, die jedermann von ihm als Zeugen erwartete.15 Jurek Becker schmückt in einer Erzählung („Die Mauer“)16 seine Erinnerungen an eine einmalige Überquerung der „Mauer“ weiter aus – er kann nichts dafür, dass die damalige Umzäunung des Ghettos genauso genannt wird wie die spätere Abriegelung Ost-Berlins von den Stadtteilen des Westens. Er hebt darin kurze, aber geradezu genießerisch ausgemalte Momente des Glücks hervor: Eine „verschworene“ Kinderclique von erst drei, dann nur noch zwei Jungen stiehlt sich nachts über die Mauer, endlos hoch und oben mit Glassplittern bewehrt, und sucht in den einstmals bewohnten Häusern nach brauchbaren Geräten: ein Fernglas, eine Taschenlampe. „Wir sind unserem Glück sehr nahe“ heißt es, als sie das ‚richtige Haus’ (in dem die Familie früher gewohnt hat) gefunden haben. Selbst ein plötzlich auftauchender Wachmann von der SS spielt mit: Er liefert sie nicht an seine Oberen aus (dann wären sie mit großer Sicherheit erschossen worden), sondern hilft ihnen sogar heil zurück über die Mauer. Abschließend liegt der erschöpfte Junge glücklich bei seiner Mame, und sie lächelt auf ihn herab, „als wäre er etwas Komisches“. Eine Lausbubengeschichte also, nur unter verteufelt erschwerten Bedingungen. Erlebt und erzählt wird sie zu einem generösen Genuss an den Künsten, die die anderen, die Freunde, beherrschen. Der Anführer Julien schafft es, im Sitzen zwischen Jurek und Itzek hindurchzupinkeln, sogar „in einem wunderschönen Bogen“. Wenn man den Vorgang gelehrt ausdrücken wollte, käme etwa heraus: Ein Elementarbedürfnis wird gestillt, aber nicht bloß so, heimlich, wie sich das gehören würde, sondern offen sichtbar und mit Aufbietung aller zur Verfügung stehenden Kunst. Nun entsteht zwar beim Pinkeln immer eine Art Bogen, aber dass er hier zur Hauptsache gemacht wird, dass man die Banalität dieses Vorgangs darüber vergessen kann, das ist der Clou der Miniszene. Viel später brachte Fred Wander seine Erlebnisse in fünf KZs und auf lebensbedrohlichen Transporten auf die Formel: „Das gute Leben“ (so nennt er seine schmerzensreiche Autobiographie):17 Der Grund ist nicht selbstverständlich, aber einleuchtend: Nie hat er so intensiv, so verbindlich und so bezogen auf seine Kameraden gelebt wie in dieser schrecklichsten Phase seines Lebens.

Unter der Mehrzahl der DDR-Poeten, die ohne Lagererfahrungen durch das „Dritte Reich“ gekommen sind, sind Momente ausgesprochenen Glücks ein seltener und wenn, dann ganz unspektakulärer Genuss. Reiner Kunze ist manchmal begeistert von hinreißenden Überraschungen, sei es von einer einzelnen Silberdistel oder von einer Briefmarke. Für Sarah Kirsch ist der Urlaub von der Politik, von der „Zeitung“ die Vorbedingung für ein ebenso ruhiges wie intensives Glück. „Wenn man hier keine Zeitung hält / Ist die Welt in Ordnung. / In Pflaumenmuskesseln / Spiegelt sich schön das eigne Gesicht und / Feuerrot leuchten die Felder“.18 Allerdings: Selbst ohne Zeitungen oder mit der „leer“ ankommenden Zeitung ist die ruhige Landschaft gefährdet: „… der Wald / Hat alle Blätter und weiß / Nichts vom Feuer“.19 „Ich gewöhn mich ins Glück“, beginnt sie das vorletzte Gedicht dieser Sammlung (Katzenkopfpflaster). Indem sie es „Kiesel“ nennt, ruft sie das berühmte Gedicht von Zbigniew Herbert unter dem Titel „Kiesel“ in Erinnerung, in dem er den „Eifer“ ebenso wie die „Kühle“ dieser „vorzüglichen Sache“, eines unscheinbaren Kiesels preist: Kiesel sind „bündig und voll Würde“. „Kiesel lassen sich nicht zähmen / Bis zum Ende werden sie uns anblicken / mit einem ruhigen ganz klaren Auge“.20

Der Westen, hätte man denken sollen, war der glücklichere Landesteil, schließlich fuhren Hunderttausende aus der alten DDR auf Nimmerwiedersehen in den Westen. Aber wenn, dann hielt er sein Glück gut versteckt, vertraute es überwiegend Sonderlingen an. Die anderen hatten wichtigere Sorgen, insbesondere wenn sie dichteten. Benn, Celan und noch ein paar ernste Dichter folgten wenigstens in diesem Punkt dem Verdikt von Adorno. Sie machten zwar trotz Auschwitz immer noch Gedichte, aber sie hüteten sich, auch nur einen Schimmer von Glück durchschimmern zu lassen. Andere waren so auf die sorgfältige Ausübung ihrer hohen Kunst versessen, dass kein Raum für Glücksgefühle blieb. Das waren viele: Arno Schmidt; Peter Weiss; Uwe Johnson; Ernst Meister; die kunstvollen ‚Sprachspieler’ Heißenbüttel, Gomringer, Rühm, Mon, Bense, Wiener und noch ein paar. Nur auf engstem Raum und mit minimalen Relikten, nur in bedrohter Existenz blitzt ein Fünkchen von Glück auf: wenn etwa Günter Eich sich und uns vergegenwärtigt, mit wie wenig z. B. ein Kriegsheimkehrer auskam; wenn Benn sich ganz hingerissen gibt, was für wunderbare Menschen aus den beschränktesten Umständen hervorgehen können: „Menschen getroffen… “;21 wenn Dürrenmatt drei Physiker in einer Irrenanstalt Zuflucht suchen und dort ihre hoch brisanten Ausarbeitungen austauschen lässt (mit der Pointe, echt Dürrenmatt: Ihre neugeschriebenen Papiere werden ihnen jeden Abend weggenommen und der Chefin der Anstalt ausgeliefert). Selbst ein schändlich hoffnungsloser Zustand kann so nonchalant, so desengagiert ausgedrückt werden, dass eine Lust aus dem bloßen Hören auf die Hörer überspringt: „Eitel, sprach die Weisheit im Barocke, / ist das Leben und vom Tod umrändert. / Auch bei uns hat sich das kaum geändert. / Nur (:) wir hängen’s nicht mehr an die Glocke“ (Rühmkorf). Es sind in der westlichen „schönen Literatur“ durchweg minimale und strikt persönliche Glückszustände, auch wenn Peter Paul Zahl einen dicken Roman unter dem Titel Die Glücklichen herausspinnt. Nur einigen wenigen Autoren, gar nicht so beliebt in der Bundesrepublik: Peter Weiss, Rolf Hochhuth, Heinar Kipphardt, denen lag an nichts so sehr wie am Glück der ganzen Gesellschaft, vor allem ihrer armen oder unwissend gehaltenen Mitglieder. Ob sie dieses Glück noch erleben würden, waren sie skeptisch, aber darauf kam es ihnen weniger an. Ernst Bloch brachte seine lange durchgespielte Ausarbeitung über das bevorstehende Glück der Menschheit mit aus der DDR, da die Oberen dort von solchem „Utopismus“ nicht viel wissen wollten. Wolf Biermann aber, der in seinen letzten Jahren in der DDR sich nur noch selten glücklich gefühlt hatte (höchstens noch in seinem Fingerhakeln mit den Oberen seines Staats, diesen „verdorbenen Greisen“), der brachte auch noch aus der DDR eine kleine, aber wesentliche Korrektur an diesem „Utopismus“ mit: „Wartet nicht auf bessre Zeiten …“ – das Glück blüht eben jetzt oder nie.

Wenn so die Sichtung der anerkannten und der selbsternannten Poeten weder im Osten noch im Westen etwas durchschlagend Überzeugendes erbringt, bleibt immer noch ein Blick auf die hier wie dort kursierenden Sprichwörter übrig, eine haltbare Ware! Die namhaftesten Autoren haben zu diesem Schatz beigetragen.22 Glück erträgt die Seele nicht stumm, lässt Goethe seinen Tasso seufzen (zum Jubeln allerdings ist er das ganze Stück hindurch nicht aufgelegt).23 Glück lässt sich nicht als gleichbleibend vorstellen – das gäbe es nur im Märchen (Jacob Burckhardt),24 Ebenso wenig als andauernd, dann wäre es langweilig (Spengler).25 „Alles, was die Seele durcheinanderrüttelt, ist Glück“ (Schnitzler).26 Stimmt es, dass Glück nur dadurch vollkommen wird, dass es seiner selbst spottet? (Robert Spaemann). Für neidische Geister gilt: „Dort wo du nicht bist, da ist das Glück“ (von Schubert vertont),27 oder: Glück ist wie der Regenbogen: „Man sieht ihn nicht über dem eigenen Haus, sondern nur über fremdem“ (Simrock).28 Eine Autorin namens Jackson29 hat resolut festgelegt: „Glück ist eine Art Mut“30 – demnach käme es (nur?) auf den Willen zum Glücklichsein an. Huxley fand: „Die Glückseligkeit gleicht dem Koks: sie ist ein Nebenprodukt“. Letzten Endes ist Glück aber etwas, worum nicht gerannt wird (wie bei Brecht), sondern worum gekämpft werden muss. Wenn man es jedoch erlangt hat, dann hat man es – nein, dann setzen wieder die Warnungen vor der Flüchtigkeit des Glücks ein. Glück ist wie Glas:31 Man kann das eine ebenso leicht zerscherben wie das andere, und von beiden holt man sich nur Splitter in die Finger, wobei die Scherben des Glücks nicht weniger schwären als die Glassplitter. – Der Philosoph Hans Blumenberg macht sich ausgerechnet für das Glück stark, das die Operette bietet – je einen Theaterabend lang. Der Zauber des ekstatischen Pariser Lebens wird als fauler Zauber erlebt, aber als solcher genossen.

Was die Wissenschaft an drei so ungleichen Autoren wie Proust, Joyce und Musil entdeckt hat, passt nicht recht zum Allgemeingut und Erfahrungsschatz des Sprichworts. Und doch ist es mehr als ihr subjektiver Einfall – immerhin haben sie alle drei viele Jahre auf die Herausarbeitung dieser Besonderheit verwandt. Das Glück besteht bei ihnen in der Faszination durch einen besonders akzentuierten „Augenblick“. Bei Proust nimmt der die Form der „memoire involonté“ an, deren überraschendes Eintreffen ihn regelrecht erschüttert, bei Joyce die der besonders ekstatischen „Epiphanie“, die er jedoch nicht willentlich hervorrufen kann, bei Musils Romanhelden Ulrich, dem „Mann ohne Eigenschaften“, die des erstrebten, aber ebenfalls nur selten erlangten „Anderen Zustands“.32 Man hätte auch noch Hofmannsthal hinzufügen können: ein völliges Zurücktreten des begehrenden Subjekts, das sich auf eine ausgefallene (möglichst erhebende) Wahrnehmung konzentriert.

Glück kann man also erwarten oder versäumen, und noch wenn man es erlangt hat, tut man gut, es sich nicht ganz zu eigen zu machen. Bei all diesen Manövern aber wird uns empfohlen, reserviert zu bleiben gegen den puren Schein von Glück wie gegen die Deklaration irgendeines Zustands als Glück. Zunehmend bis zur Gegenwart wird der Glückszustand, ebenso wie das Glücksempfinden, individualisiert und personalisiert: Es ist mein eigener Gewinn, wenn auch nicht mein Verdienst. Solange die DDR noch existierte, war die Vorstellung von persönlichem Glück eine Art Vorbehalt gegen den offiziell verordneten Segen für die ganze Gesellschaft. Und in der Bundesrepublik begnügten sich die Autoren sowieso mit dem auf sie entfallenden Glück in der freien Natur oder gleich „im Winkel“. Die raue Studentenbewegung der späten 60er Jahre brachte da nur kurzfristig eine Umorientierung. In der Phase der Wiedervereinigung und danach, die ist wahrhaftig schon wieder 30 Jahre her, wuchs zwar die Bereitschaft, ein Ereignis von dieser Größe und Güte nun auch als ein primär gesellschaftliches anzuerkennen. Wie aber dieses Ereignis verlief, oder gesteuert wurde, brachte es zu viele Enttäuschungen, auch Belastungen für die davon Betroffenen, als dass sich ein durchgehendes Glücksgefühl eingestellt hätte.

Angesichts dieses Befunds bleibt den Libertären und Anarchisten kaum was anderes übrig, als sich an das Glück des einzelnen Ich zu halten und ihm neue Erkenntnisse abzugewinnen. Für das hohe kollektive, das menschheitsbeglückende Glück der Propheten und ihrer Utopien – von Goethe noch (im V. Akt von Faust II) in die Welt hinausposaunt, aber mit nicht zu überhörender Ironie – blieb dem lesenden Teil der Menschheit vom späten 19. Jahrhundert an keine Beglaubigung übrig. Über die einzelne auf sich gestellt Seele aber erfährt der Inhaber dieser Seele immer mehr, eine ganz neue Selbsteinschätzung. Wenn du nicht bei dir selbst anfängst, in deinem Inneren wie in deinem Umkreis, dann können dich die ausgesuchtesten und besterprobten Glücksprogramme, und seien es die der Sozialisten und Anarchisten, nicht ernsthaft glücklich machen. Nicht zu vergessen ist auch das Glück der inneren Widerborstigkeit, das Wolf Biermann aus seinem Staat mitgebracht und hier wenigstens sprachlich weiter gepflegt hat.

Dem Einzelnen wird durch diese Weiterentwicklung, diese Reprivatisierung, wenn man so will, eine ganze Menge aufgebürdet, aber er gewinnt auch nicht wenig aus dieser Wendung. Er wird sich selbst nicht durchsichtiger, eher geheimnisvoller. Und er trägt aus dem Rückverweis auf das eigene Ich, früher hätte man „die eigene Seele“ gesagt, einen mächtigen Impuls seines Gefühlslebens wie seiner Erkenntnis und seines Willens davon. Auf dich kommt es an, das hatte schon Angelus Silesius vertreten: „– du bleibest ewig tot, blühst du nicht jetzt und hier“. Dein ganzes Wesen wird schön, wird eine Freude anzuschauen, und es bringt auch Frucht. Es wirkt auf andere, die es bewundern und sich in ein Verhältnis zu der gelungenen, der offenbar gewordenen Epiphanie des Glücks versetzen sollen. Glück kommt inkognito oder gar nicht.33 Glück beglückt nicht nur den Glücklichen, sondern es strahlt aus. Es lädt andere sieghaft und dank dieses Siegs dauerhaft dazu ein, sich ebenfalls glücklich zu fühlen. Mag sein, dass die politische Entfaltung der Anarchie aus dem Programm für und der Gewinnung von großen Massen folgt, aber zunächst, vorbereitend, aufschließend ist das soziale Programm der Vergesellschaftung von einzelnen Individuen fällig. „Wer sich über des andern Glück freut, dem blüht sein eigenes“.34 n#Hn#Hn… Zuerst muss das alltägliche Ich für ein neues Verhältnis zur Gesellschaft vorbereitet werden, und dazu ist nichts so wirkungsvoll wie das liebe alte Glück.

1 gleich im ersten Caput seines Wintermärchens.

2 Damit ist, bei Heine, jede Frau selbstverständlich mitgemeint.

3 in seiner großen Hymne „Brod und Wein“.

4 Kerstin Gloy spricht deshalb von einem „Bruttokonstitutionsglück“ (Zwischen Glück und Tragik. Philosophische Praxisdeutungen, 2014, S. 88-100). Sie liest das herrlichste Glück als unverkennbar aus strahlenden Kinderaugen heraus, S. 96.

5 „Jakob“, in: Lasker-Schüler, Sämtliche Gedichte, 1966, S. 174.

6 Es klingt, als hätte er von Nestroy gelernt, der in seinem Lumpazivagabundus den Solidesten des „liederlichen Kleeblatts“ den andern beiden versichern lässt: „Ihr seid’s Lumpen, aber treue Seelen, wahre Goldkerls“. (Da Mühsam sehr belesen war, ist das wenigstens nicht ausgeschlossen).

7 Erich Mühsam, Gedichte Prosa Stücke, 1985, S. 12.

8 In seiner dritten Autobiographie, Gelächter von außen (1966), schreibt er über diese als ‚heikel’ geltenden Ruhmestaten viel offenherziger als in seiner ersten, Wir sind Gefangene (1927).

9 Siehe später sein Bayrisches Dekameron oder siehe seinen Bolwieser: „Wir sind doch nichts als arme, triebgeplagte Luder“.

10 Ludwig Marcuse, der Philosoph des Glücks, nicht Herbert Marcuse, der intellektuelle Helfer der Studentenbewegung.

11 Mit endgültigem Titel nannte er sie Die Erben des Untergangs (1959).

12selbst wenn sie Teile ihres Vermögens ins Ausland retten konnten wie Feuchtwanger – mit einer Luxusvilla in Pacific Palisades – oder wenn sie mit gut honorierten Vorträgen über die unsäglichen Nazis durch alle größeren Städte der Staaten tourten wie der „König der Emigranten“: Thomas Mann.

13 Brecht. Die Dreigroschenoper (1928), in: B. Brecht, Gesammelte Werke Bd. 2 (1967), S. 535f.

14 Brecht, Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, Bild 19, in: B. Brecht, ebd. , Bd. 2, S. 560.

15 So wie Kertesz diese Erfahrung an das Ende seines „Romans“ setzt, so zitiert es Dieter Thomä zu Beginn seiner wissenschaftlichen Studie Vom Glück in der Moderne (2003, S. 21).

16 Abgedruckt in seinem Erzählungsband Nach der ersten Zukunft, 1983, S. 62-102.

17 Fred Wander, Das gute Leben, 1996.

18 S. Kirsch, „Im Sommer“, in ihrem Gedichtband von 1978: Katzenkopfpflaster, S. 92.

19 Sarah Kisch, „Landaufenthalt“, ebd., S. 18f.

20 Zb. Herbert, „Kamyk“, in: ders., 89 wierszy, 1998, deutsch nach Karl Dedecius, Zbigniew Herbert, Gedichte, 1964, S. 76.

21 „Menschen getroffen…, in: Benn, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 321.

22 Und entsprechend haben die Verfasser von Sprichwörterbüchern ihre Ware dann wieder auf diese Urheber verteilt.

23 Goethe, Torquato Tasso IV,2, zitiert in: Karl Peltzer, Das treffende Zitat. Gedankengut aus drei Jahrtausenden und fünf Kontinenten, o. J., Eintrag zu „Glück“ Nr. 77.

24 Ebd. Nr. 58.

25 Lothar Schmidt, Das große Handbuch geflügelter Definitionen, 1971, unter „Glück“.

26 Ebd.

27 Peltzer Nr. 18.

28 Peltzer Nr. 42.

29 Ob Helen, spätes 19. Jahrhundert, oder Shirley, Mitte des 20. Jahrhunderts, muss ich hier offen lassen.

30 bei Lothar Schmidt.

31 Bei Peltzer, Nr. 2, Simrock zugeschrieben, aber der Sache nach viel älter.

32 S. Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, 1981, S. 180-218.

33 Das fand Gertrud Höhler als Resultat ihrer wendungsreichen Studie zum Thema Das Glück. Analyse einer Sehnsucht (1981).

34 Peltzer Nr. 8 (Simrock zugeschrieben).